Lüneburg, am Donnerstag den 28.03.2024

LOCARLO: Karsten Hilsen - ein Leben im Widerstand

von LOCARLO am 04.04.2022


Karsten Hilsen hat den Protest gegen Atomanlagen geprägt. Er war ein Mann im Hintergrund, sorgte aber immer wieder für Schlagzeilen. Jetzt ist er gestorben

Karsten Hilsen war anstrengend, aus Überzeugung. Als er im Sommer 2010 ein paar Kekse aus dem Abfall einer Großkonditorei im Lüneburger Hafen mopste oder -- wie er es sagte -- rettete, und erwischt wurde, war klar, dass es im Prozess vor dem Amtsgericht um mehr ging als einen Hausfriedensbruch. Nämlich um die Frage, kann es strafbar sein, Essen aus dem Abfall zu fischen? Greift hier der herkömmöiche Eigentumsbegriff? Wo macht der Rechtsstaat sich mit seinen Regeln lächerlich oder besser: Wo müsste er sie ändern? Eigentlich dauert so ein Verfahren vielleicht eine Stunde, Karsten Hilsen und seine juristische Begleiterin Cècile LeComte machten ein tagelanges Spektakel daraus. An einem der Prozesstage beendete quasi die Putzfrau, die mit Eimer und Feudel anrückte, die Verhandlung. Es nahm kein Ende. Schließlich sollte Karsten 25 Tagessätze à 5 Euro zahlen. Berufung vorm Landgericht. Freispruch. Karsten hatte gesiegt, der Rechtsstaat gewonnen, weil er es aushält, wenn er in Frage gestellt wird und sich korrigieren muss. Auch wenn es bei viel Staub und Krach kaum zu sehen war: Der Aktivist -- hier passt das Wort -- hatte der Demokratie einen Dienst erwiesen. Jetzt ist Karsten Hilsen gestorben. Er wurde 62 Jahre alt.

Es waren lange Jahre in der Opposition gegen vieles. Wenn protestiert wurde, war Karsten dabei. "Er hat sich nie in den Vordergrund gedrängt", sagt Cècile LeComte. Er meldete in den 1990er Jahren Demonstrationen gegen Atommülltransporte ins Wendland an und in den vergangenen Jahren welche für das Wohnprojekt Unfug am Rande Kaltenmoors. Er saß im Knast, nachdem er Ende 2010 einen Castorzug bei Lubmin mit einer Kletteraktion blockiert hatte und eine Geldstrafe nicht zahlen wollte. Er gehörte zu den Mitbegründern der Bauwagensiedlung Lebenswagen am Ebelingweg zwischen Standrand und Vögelsen. Der Mann mit der hohen, fast sanften Stimme war freundlich und zugewandt, wenn man sich mit ihm unterhielt. Da war immer Begeisterung für eine andere Gesellschaft, ein anderes Zusammenleben. Eben das war manchmal anstrengend, wenn man Karstens Anschauungen nicht teilen konnte und wollte. Er hatte mir erzählt, dass er aus dem Landkreis stamme, dass er in seinem Dorf in der Feuerwehr aktiv gewesen war. Seine Freunde berichten, er sei beim Bund gewesen als Sani, habe später den Kriegsdienst verweigert. Er verabschiedete sich von seinen bürgerlichen Wurzeln, von seiner Familie. Ob im Guten oder im Zwist -- ich weiß es nicht. Cècile LeComte sagt, sie sei mit den erwachsenen Kindern im Kontakt, um eine Abschiedsfeier zu planen. Die beiden, engste Freunde, aber kein Paar, leben seit langem in Bauwagen. Zunächst an der Uelzener Straße, dort, wo heute ein Studentenwohnheim steht, dann an der Straße nach Vögelsen, schließlich hinter dem Haus zwischen Waldfriedhof und den Hochhäusern Kaltenmoors.

"Karsten hatte eine politische Familie", sagt Cècile LeComte. Die hatte viel mit Klettern zu tun. Die beiden besetzten immer wieder Brücken über Bahngleisen, um Atommülltransporte zu blockieren, um gegen Kernkraftanlagen zu protestieren. Im französischen Cherbourg kraxelten sie auf einen Kran, um Transparente zu enthüllen. Die Polizei reagierte genervt, hatte das Duo oft lange im Blick -- um Aktionen zu verhindern. Vergeblich. Die Französin kam 2005 nach Lüneburg, machte schnell mit bei der Initiative Liga, die sich gegen Atomanlagen richtet. Da traf sie Karsten: "Wir haben uns auf Anhieb verstanden." Er hatte sein "Erweckungserlebnis" 1980, als Kernkraftgegner am Bohrloch 1004 mit der Gründung der Republik Freies Wendland die Atomanlagen in Gorleben verhindern wollten: "Da stand Karsten daneben, es war der Auslöser für seine Proteste." Die Polizei räumte das sogenannte Hüttendorf nach vier Wochen und machte es platt. Die heute 40 Jährige und ihr gut 20 Jahre älterer Weggefährte hatten 2007 einen großen gemeinsamen Auftritt: Sie kletterten an der Bastion am Schifferwall auf eine Eiche, um das Fällen von Bäumen für den Neubau der Reichenbachbrücke zu verhindern. Nach zwölf Tagen holte das Hannoveraner Spezialeinsatzkommando der Polizei Hilsen herunter. Er machte es den Beamten nicht leicht, weil er um sich schlug, hochgefährlich in 10, 15 Meter Höhe. Glücklicherweise ging alles glimpflich aus. Als die Stadt später eine Rechnung über 286 Euro für einen Hubwagen schickte, ging Hilsen dagegen an und gewann gegen Rechtsamtsleiter Wolfgang Sorger. Die Verwaltungsrichter: Das Rathaus hätte keine Forderung stellen dürfen, sondern allenfalls die Polizei. Die Brücke wurde gebaut, die Bäume gefällt, trotzdem ein kleiner Erfolg blieb für Karsten.

Vor ein paar Monaten bekam er die Diagnose Krebs. "Er ist zur Chemo mit dem Rad gefahren", erzählt Cècile LeComte. Wie immer, bei Wind und Wetter, obwohl sein Körper geschwächt war, aber nicht sein Geist: "Er war ganz klar." Doch hier nützte sein Kampf nichts, die Krankheit war stärker. Seine letzten Wochen lag er auf einer Palliativstation. "Vor einer Woche durften wir in das letzte Mal besuchen, Corona." Sie schilderten von ihrem Plan Aktion, sich von einer Autobahnbrücke abzuseilen, um für eine andere Verkehrspolitik zu werben. Er fand das -- selbstverständlich -- richtig gut. Als Cècile LeComte da am Sonntag über der A 39 in den Seilen hing, dachte sie auch an den gerade gestorbenen Karsten: "Es war auch für ihn." Der Mann aus der zweiten oder dritten Reihe ist nun gegangen. Seine Freunde denken an ihn, Beileid komme aus bürgerlichen und anarchistischen Kreisen.

Fotos: Die Bilder stellt Cècile LeComte zur Verfügung: 1) 2 Bilder der Baumbesetzung reichenbachplatz 2) Demo in Cherbourg 2007 gegen AKW Nebaubau in Flamanville, wir waren gemeinsam mit dem riesigen Banner auf dem großen Kran, Banner hing dann über Demo mit 30 000 Menschen. 3) Castorprotest 2009 auf der Brücke über den Elbeseitenkanal 4) Sein Besenwagen, Fahrradanhänger mit Ersatzrädern bei jeder Fahrraddemo über die Umgehungsstrasse in Lüneburg 5) Antiatomprotest in der Bäckerstrasse 2007 6) Keksprozess vor dem Landgericht

© Fotos: Cècile LeComte


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