Abschied von einem Stillen
von Carlo Eggeling am 19.05.2023Neulich wurde mein Nachbar beerdigt. Wir haben ein paar Jahre zusammen im selben Haus gewohnt. Ab und an mal ein Gespräch, über das Haus, die Arbeit, Krankheiten. Er war zusammengebrochen im Supermarkt. Epileptischer Anfall, als er am Boden lag, stieg eine Frau über ihn rüber und beklagte sich, sie habe gar keine Zeit, wann es endlich weitergehe. Hat mir die Kassiererin erzählt. Reha. Frührente. Er wirkte, als nehme er das Schicksal an.
Er lebte weiter so zurückgezogen wie vorher. Morgens gegen sieben lief er mit seinem kurze-Schritte-Gang zum Geschäft am Thorner Markt. Als sie ihn ein paar Tage nicht gesehen hatten, kümmerten sich andere im Haus. Die Polizei fand ihn tot in der Wohnung. Wohl kein Ansprechpartner. Aufgabe der Behörden. Wie es so ist, der Mensch wird zu einer Sache, er muss entsorgt werden, sonst kann er zu einer Gefahr werden. Zersetzung, Seuchengefahr. Bestatter.
Offenbar waren seine Verhältnisse nicht ganz einfach. Es ging um Zuständigkeiten, wussten die Nachbarn. Dann eine Traueranzeige der beiden Kinder. Abschied auf dem Waldfriedhof. Die Trauerrednerin muss eine Vorliebe für die deutsche Romantik haben. Ihre Worte vom Werden, Sein und Vergehen wirkten wie von Joseph von Eichendorff und ein gefühliges Gemälde Caspar David Friedrichs. Inhaltlich nur wenig über meinen Nachbarn.
Immerhin: Er hatte als Junge gern Fußball gespielt, ein Handwerk gelernt, sich verliebt, geheiratet, Kinder bekommen, Scheidung, Umschulung, weil es mit dem Rücken nicht mehr so ging. Krankheiten, Nachtwachen in einem Altenheim, Frührente.
Dazu lief Musik. Ein Stück Hoffnung auf das, was kommen mag. Led Zeppelin, Stairway to Heaven: "Und ein neuer Tag wird anbrechen/ Für all jene, die ausgeharrt haben/ Und die Wälder werden das Echo/ Von Gelächter widerhallen lassen." Vielleicht. Hätte ja etwas, wenn wir uns in dunklen Stunden daran festhalten könnten.
In der Kapelle auf dem Waldfriedhof dauerte es eine Viertelstunde, genau 17 Minuten. Für ein Leben und einen Abschied. Ich weiß nicht, welche Erinnerungen die anderen zwei Dutzend Trauergästen haben, Familie, Kollegen, vier Nachbarn. Wenig Spuren nach 63 Jahren auf der Welt, wenig, was man der Rednerin wohl erzählen konnte. Es klang ziemlich, ziemlich einsam.
Die Wohnung bleibt behördlich versiegelt, irgendetwas ist zu klären. Es wird sich klären, jemand Neues wird einziehen. Das Leben geht ja weiter. Ein wenig bleibt. Dabei verblasst bereits das Bild. Aber der hagere Mann mit den kurzen Schritten und dem Einkaufsbeutel fehlt. Auch ein Stiller gehört dazu. Es wäre schön, wenn sie es spüren.
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