Alltägliche Gewalt in der Pflege — es gibt Hilfe
von Carlo Eggeling am 15.07.2025Wer ist Täter, wer Opfer? Das kann verschwimmen, wenn es um Pflege geht. Wie hält man es aus, wenn die hochbetagte Mutter bettlägrig ist und quengelt tagein, tagaus? Wie geht eine Pflegerin damit um, dass der Senior ihr an den Busen fasst und anzügliche Bemerkungen macht? Gelingt es, ruhig zu bleiben? Wird man laut? Schüttelt man das Gegenüber in seiner Hilflosigkeit und Überforderung? Belastbare Zahlen gebe es nicht, doch Gewalt in der Pflege sei alltäglich wissen Eckhard Oldenburg, Vorsitzender des Kriminalpräventionsrates von Stadt und Kreis, Kyra Alverman vom kommunalen Pflegestützpunkt und Kathrin Richter aus dem Fachkommissariat für Gewaltdelikte und Mitglied des Präventionsteams der Polizei. Sie werben für das Hilfetelefon, das Beratung anbietet.
Die Hauptkommissarin und ihre Mitstreiterin vom Seniorenstützpunkt berichten aus der Praxis, wie es "zu einem schleichenden Übergang zur Gewalt kommt". Sie beschreiben die Enge zwischen Menschen, die Hilfe benötigen und denen, die helfen, sei's in der Familie, im Heim oder in einem Pflegedienst. Es ist eine Geschichte gegenseitiger Überforderung: Alte und Kranke, deren Geist wegdämmert, die es merken und aggressiv reagieren, die möglicherweise sexuell übergriffig werden. Auf der anderen Seite Helfer, die unter Zeitdruck stehen, die zu wenig Entlastung erfahren, die wissen, dass sie nicht angemessen arbeiten. 80 Prozent der "Täter", wenn man sie so nennen will, hätten Schuldgefühle, das sei das Ergebnis von Befragungen.
Wer schwer eingeschränkt ist, kann oftmals nicht zum Telefon greifen, weil er es nicht erreicht. Auch bestehe eine Abhängigkeit, nach dem Motto: Mache ich meine Situation öffentlich, wer hilft mir dann? Und wer überreagiert, meldet sich kaum bei der Polizei -- sie muss Straftaten verfolgen.
Seit zehn Jahren soll die besondere Nummer helfen, Hilfe zu finden. Erst hieß es Sorgen-, jetzt Hilfetelefon. Dort sitzt eine Juristin, die eine Lage rechtlich einordnen und Hilfeangebote nennen kann. "Gespräche laufen vertraulich", sagt Kyra Alvermann. Die Juristin gebe den Inhalt der Gespräche nicht an die Polizei weiter. Das sei wichtig, betont Polizistin Richter: "Wer anruft, nimmt all seinen Mut zusammen. Meistens haben wir nur eine Chance, die Leute zu erreichen." Deshalb müsse der Anrufer Vertrauen fassen.
Schön reden will hier niemand etwas. Es gebe extreme Fälle von Gewalt, Machtmissbrauch, das Plündern von Konten. Der Pressetermin ist daher ein Appell an das sogenannte Umfeld sich einzumischen: Wer Schreie und Stöhnen aus der Nachbarwohnung wahrnimmt, möge sich an Behörden und Polizei wenden. "Es gibt die Devise, was in den eigenen vier Wänden passiert, geht niemanden etwas an", sagt Kathrin Richter und fügt mit Nachdruck an: "Doch, es geht uns etwas an."
In den vergangenen Jahren habe sich einiges geändert. Die Polizei guckt nach Mordserien in Altenheimen und Krankenhäusern genauer hin, wie jemand verstorben ist. Ist jemand unglücklich gestürzt oder hat jemand nachgeholfen? Gibt es Einstichstellen von Spritzen oder Hinweise auf Medikamentenmissbrauch? Weist der Verstorbene sogenannte Durchliegestellen auf, weil er nicht regelmäßig umgebettet wurde? Polizei, Behörden und andere Organisationen, die im Präventionsrat vertreten sind, wollen früher handen -- eben präventiv durch Aufklärung.
Klar ist, dass es um strukturelle Veränderungen geht. Das sei allerdings nicht ihre Aufgabe, betonen die drei vom Präventionsrat: "Wir sind nicht politisch." Gleichwohl beschäftigen die Themen lange Medien und Politik: Es gibt zu wenig Pflegeeinrichtungen, der Landkreis Lüneburg beispielsweise hat sein eigenes Altenheim in Amelinghausen lange geschlossen. Andere Seniorenheim machen dicht oder werden in betreutes Wohnen für eine zahlungsfähige Klientel umgewandelt; Pflegedienste finden zu wenig Fachpersonal. Auch Bürokratie könne ein Hindernis sein, finden Kritiker: Wer hohe Standards setze und auf examinierten Mitarbeitern bestehe, müsse damit leben, dass es zu Unterversorgung komme.
Große Themen. Das Pflegetelefon will im Kleinen eine Unterstützung sein, aber das kann für manchen eine große Hilfe darstellen. Zu erreichen ist es montags von 15 bis 17 Uhr unter 04131 2873757 und per Mail hilfetelefon@stadt.lueneburg.de
Carlo Eggeling
Das Bild zeigt Kyra Alvermann, Eckhard Oldenburg und Kathrin Richter vor dem Eingang des Seniorenpflegestützpunktes am Markt 2.
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