Lüneburg, am Dienstag den 22.10.2024

Aufregen? Heiter bleiben

von Carlo Eggeling am 06.07.2024


Meine Woche
Sommer. Theater

Ich habe einen sehr schönen Satz des dunklen Denkers Friedrich Nietzsche gelesen: "Die Tanzenden werden für verrückt gehalten von denen, die die Musik nicht hören können." Hören wir mal rein beim ersten Akt des Sommertheaters. Ein bisschen schrill ging's zu beim 60. Geburtstag des Bürgervereins. Die Oberbürgermeisterin konnte nicht kommen. Das fand der Vereinsvorsitzende, Rüdiger Schulz, wenig freundlich vor dem Hintergrund, dass Stadt und die 150-Mitglieder-Truppe durch misslungene Kommunikation des Rathauses in selbigem nicht tagen wollte oder konnte und ins Museum ausgewichen war. Eigentümlicherweise neben die Dinosaurier-Ausstellung. Zufall.

Frau Kalisch schickte ein Grußwort, das nahezu wortgleich ihr geschmähter Vorgänger Mädge schon vor zehn Jahren präsentiert hatte. War der Uli doch ganz ok? Für Schulz jedenfalls schlimm: "Claudia klaut"; bisschen viel Sturm. Denn klar war sofort, Autorin war die Pressestelle und selbstverständlich nutzt die einen Steinbruch von Reden, Zitaten und das eigene Archiv.

Langer Beitrag in der LZ, die nicht vor Ort war, samt eines staatstragenden Kommentars, es gebe andere Aufreger -- von denen wir allerdings selten lesen --, und eine nüchterne Einordnung durch die städtische Pressestelle. Ein alter Kollege fühlte sich bei Facebook wiederum bemüßigt, dem großen Schulz Kleines nachzuweisen, der sei sein eigener Plagiatskönig, weil er regelmäßig mit demselben Zitat unterzeichnet.

Bei so einer bedeutenden Debatte darf ich nicht fehlen. Meine Einschätzung: Zwei Chefredakteure früher hätten wir bajuwarisches Gelächter gehört und den Satz: "Schreibst a Glosse drüber."

Sommertheater mit Schattenseiten auch am Sand. Die Oberbürgermeisterin kommt, um sich das Dutzend Saufnasen anzugucken, das wie immer bei praller Sonne aus der Bushaltestelle auf die Seite des Medienhauses umzieht. Ein paar von denen sind laut, einige sind keine Anhänger gewaltfreier Kommunikation, sondern eher des handfesten Austauschs, Polizei und Rettungsdienst gehören zum Personal am Ring.

Die Oberbürgermeisterin sprach nicht direkt mit den Dauercampern. Die hätten nicht gewollt, was vielleicht daran lag, dass eine Pressesprecherin plus Fotografin und Redakteur plus dem Chef der Herberge dabei waren. Mich würde das einschüchtern. So wirkte das Foto im Blätterwald lediglich halbgelungen — ohne die anteilnehmende Sozialromantik. Warum kommt sie nicht alleine?

Ein Regiefehler, an den bild-erfahrene Referenten sich hätten erinnern können: Vergangenes Jahr war es schon einmal so gelaufen. Da hatte Claudia Kalisch einem pöbelnden Extrem-Biertrinker bei der Eröffnung des Stadtfestes zugerufen, er solle im Park Flaschen sammeln. Danach kam sie mit leichtem Bedauern und großem Aufgebot auf den Sand, der Mann hatte keinen Redebedarf.

Im Clamartpark können Bedürftige übrigens schwieriger Flaschen sammeln, der wurde umgebaut. Die Drogenszene ist nun irgendwo anders unterwegs. Beim Lokaltermin der Oberbürgermeisterin setzte die Stadt aufräumend ein Zeichen: Die Bank, auf der Szene Platz nahm, wurde während ihres Besuches abgebaut.

Ein Schar Trinker am Sand, weitere am Reichenbachplatz, im Scunthorpe-Park, am Kalkberg. Dazu kommt, so heißt es aus Polizeikreisen, eine halbe Hundertschaft der offenen Drogenszene. Es scheint überschaubar. Ein Sozialkonzept solle erarbeitet werden, praktischerweise vom Diakonieverband, der der Stadt die entsprechende Sozialarbeit gegen Bares abnimmt. Die Rede ist seit langem von einem Treffpunkt für die, die am Rand leben. Leider, leider wolle kein Vermieter einen Raum geben. Was für eine Überraschung. Und nichts passiert.

Vor eineinhalb Jahren lief eine Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zum Thema. Who's next? Zwei, drei Botschaften: keine Vermischung der Szenen, weil seelische Kranke, eine andere Ausgangslage haben als Alkoholkranke, die wiederum leben anders als Obdachlose und Drogenabhängige. Vorsicht bei sogenannter defensiver Architektur -- eine verschwundene Bank lässt Betroffene nicht verschwinden, sondern nur anderswo hingehen. Es brauche Sozialarbeit und konkrete Angebote. Lüneburg? Drei Streetworker teilen sich eine Stelle.

Noch mal Sand. Abgeschnitten durch Baustellen ist es himmlisch ruhig. Das liegt weniger an den nicht fahrenden Bussen, sondern vor allem an Handwerkern, die keine Abkürzung haben, an echten Männern, die sich über AudiBMWMercedes-Röhren definieren, an Herren, die gern vor ihren Cafés auf einen Kaffee vorfahren. Könnte der Probelauf für eine Verkehrswende sein nach der Bauzeit sein.

Was Geschäftsleute ebenfalls erzählen: weniger Menschen, die einkaufen oder Lotto spielen. Aus Banken ist zu hören: Es lägen kaum Überweisungsträger in Briefkästen, ein Indiz dafür, dass weniger Senioren kommen, die ihre Geldgeschäfte ungern elektronisch abwickeln. Sollten Verkehrsplaner in ihre Visionen einbeziehen bei 20 000 Lüneburgern, die älter als 60 Jahre sind.

Noch eine Farce aus dem Sommertheater. Sich dem Gefühl hinzugeben, sei richtig, habe ich lang und breit in der Zeitung gelesen. Es gibt im Internet einen Cry Club -- weinen in der Öffentlichkeit sei ok. Ist das so? Tränen treibt einem ja vieles in die Augen, wenn man sich so umschaut. Aber gemeinsam Tränen kullern zu lassen verbinde irgendwie. Glaube ich sofort, wenn ich die aufmunternden Worte lese: "Ich küsse eure feuchten Augen." Was für eine Kraft! Manchmal kann man ja Tränen lachen so wie bei der ehemaligen Veranstaltungsreihe im Kurpark namens Lach-Yoga. Scheint hilfreicher. Wie sagt das Rheinland: "Jede Jeck is anders."

Kommen wir nochmal zum Theater des Sommers, der keiner ist. Wissenschaftler aus Rostock und Aarhus haben sieben Millionen Politiker-Reden ausgewertet, stand im Journal Kommunal, Ergebnis: Politiker sprechen knapper und klarer, je heißer es wird: "Ab 24 Grad werden die Sätze einfacher, die benutzten Wörter kürzer. Und noch etwas fiel, vor allem anhand von Reden im Deutschen Bundestag auf: Ältere Menschen neigen schon ab 21 Grad zu einfacheren Wörtern, Jüngere erst ab 25 Grad."

Ich würde sagen, Berlin, Hannover und Lüneburg brauchen ziemlich viel Sonne, wenn es vorangehen soll. Als Fundament gehören eine Idee und ein Ziel dazu. Das Publikum möchte Musik hören, wenn es auf die Tanzenden blickt. Verrückt, oder? Carlo Eggeling

© Fotos: ca


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