Besuch in anderen Welten. Und in Lüneburg
von Carlo Eggeling am 04.10.2025Meine Woche
Die Zärtlichkeit des Kolumnisten
Zyniker seien enttäuschte Romantiker, soll Oscar Wilde gesagt haben. Irgendwer wird wieder besser wissen, ob der irische Dichter das tatsächlich gesagt hat. Egal, der Satz hat viel für sich. Mit 14 habe ich den "Arbeiterkampf" verkauft, eine kommunistische Zeitung. Viel Lesen bei Marx und Co. Die Vision einer Welt, die Produktions- und damit Herrschaftsverhältnisse radikal durchwirbelt, bescherte einen -- gefühlt -- analytischen Blick. Liebe hält nicht immer, was man sich verspricht. Es gibt noch so einen Satz, der passt, Churchill und anderen zugeschrieben, sage ich wegen der Zitate-Jäger: "Wer mit zwanzig kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer mit vierzig noch einer ist, keinen Verstand." Lange Vorrede. Hat einen Grund, ich hielt mich für links.
Was im Gaza-Streifen passiert, ist furchtbar. Selbstverständlich muss die israelische Regierung aufhören, eine Region zu zerbomben. Wer sich allerdings wie auch in Lüneburg in Palästina-Demos einreiht, scheint seinen Verstand auszuschalten. Er vergisst, dass die Hamas eine Mörderbande ist, die Hunderte Juden ermordete, die Geiseln nahm und quält, die sich in Schulen und Krankenhäusern verschanzt, so ihre Landsleute als Schutzschilde missbraucht. Hier rufen sie „Free Palastine“. Im Ernst? Für was? Für was für ein Regime? DNA der deutschen Linken sollte Auschwitz sein, das Nie wieder. Vergessen?
Ob sich jemand als „nützlicher Idiot“ empfindet, der mitläuft? Wo bleiben die Werte, die sonst gelten? Schwul, lesbisch, trans -- queer -- zu sein, ist bei einem Bevölkerungsanteil zwischen fünf und zehn Prozent nichts Besonderes. In der Gaza-Flotte, die Richtung Israel schipperte, mit queeren Menschen an Bord, allerdings schon. Die Aktivistin Mariem Meftah findet: "Als 'Queer'-Aktivist zu agieren bedeutet, die Werte der Gesellschaft anzutasten und einen Weg einzuschlagen, der meine Kinder und meine Angehörigen in eine Situation bringen könnte, die wir ablehnen. Ich lehne es ab, dass meinem Sohn in der Schule vorgeschlagen wird, sein Geschlecht zu ändern." Sie sei kein Einzelfall, schreiben queere Medien. Zum heiligen Kampf für Free Palastine, muslimisch geprägt, passt queer nicht.
Genossen, habt Ihr sie noch alle? Wie kann man sich gemein machen? Die Vision von anderen Verhältnissen zerbröselt zu einer nicht mal armseligen Version.
Tag der Deutschen Einheit. Welches Land hätte es hinbekommen, zwei verschiedene Gesellschaftssysteme zu verschmelzen? Was für eine Leistung. Blühende Landschaften? Nicht überall. Aber deutlich besser als die vergiftete Elbe, verfallene Häuser, eine Staatssicherheit, die jegliche Kritik ahndete. Wer einmal den Stasi-Knast Berlin-Hohenschönhausen besucht hat, weiß, dass der angebliche sozialistische Staat kein menschliches Antlitz besaß, sondern eine gewalttätige Fratze.
Dieses Gejammer der Ost-Identität, die so beschädigt wurde, eine endlose Schleife romantischer Soljanka-Verklärung. Die DDR-Bürger haben 1990 nicht die Runden Tische gewählt, sondern Wiedervereinigung, Helmut Kohl und die D-Mark. Wer heute weit weg von Deutschland Urlaub macht, hört sächsischen Dialekt, Einfärbungen aus dem Vogtland und Mecklenburg. Meine Verwandten aus Schwerin und Güstrow waren in Ländern, die ich nicht gesehen habe. Wismar, Quedlinburg, Dresden -- so schön. Noch dreieinhalb Jahrzehnte DDR, welche Schätze würden noch stehen?
Zuwanderung. Wer hat "Fidschis und Neger" gejagt, die als Gastarbeiter in die DDR geholt worden waren? Rostock-Lichtenhagen, tagelang schaute die Polizei zu, als im August 1992 Neonazis Asylbewerber-Unterkünfte in Brand setzten -- 3000 gelernte DDR-Bürger applaudierten. Zuwanderer und Flüchtlinge bedrohen uns? Waren es nicht Hunderttausende DDR-Bürger, die vor und nach der Wende in den Westen flüchteten? Wer die AfD wählt, wählt nicht aus Protest, sondern geschichtslos. Da treffen sich dann die Kumpels von Sahra Wagenknecht und Björn Höcke. Was für Genossen.
Kommen wir zu etwas Heiterem, findet selbst Ratsvorsitzende Jule Grunau. Am Donnerstag tagte der Rat. Es gab einen Nachrücker bei den Grünen. Jule Grunau, ebenfalls bei den Grünen, begrüßte ihn, man habe "viel Spaß hier", es sei "amüsant". Da hat sie recht. So geht es mir oft, auch dieses Mal. Die grüne Oberbürgermeisterin interpretierte die Geschäftsordnung freizügig, lustigerweise ließ die Ratsvorsitzende sie gewähren. So nutzte Claudia Kalisch "Wichtige Mitteilungen der Verwaltung" für einen Schlag gegen CDU-Frau Anna Bauseneik. Die durfte nach Protest zwar reden, aber inhaltlich nicht erwidern -- Sie verstehen, die Geschäftsordnung. Bei Frau OB scheint es irgendwie anders.
Die OB kritisierte die Kritik der Union an der Verwaltung. Zur Erinnerung, die Schwarzen meinen, das Rathaus greife nicht genug durch gegen die Verelendung der Innenstadt. Kalisch fand es unmöglich, dass CDU-Bauseneik, den Runden Tisch von Stadt, Sozialarbeit und Polizei als "Wohlfühldiskussionsrunde" bezeichnet habe. Harte Worte. Nur leider gegen die Falsche, den den Begriff hatte Anna Bauseneik gar nicht benutzt, sondern der Vorsitzende der Jungen Union, Arwed Köster, in einer Presseerklärung.
Man kann ja mal daneben liegen, frau auch. Nur blöd, wenn man die Geschäftsordnung bis zum Grünwerden dehnt und scharf schießt. Genauso gemein oder schlimmer als die Unionisten, erklärte Frau Kalisch, seien schlagzeilenhaft „ständig wiederholte Parolen in Social-Media-Kanälen“ mit Kritik an der Verwaltung. Damit meinte sie mutmaßlich Lüneburg aktuell.
Amüsant zeigte sich die Oberbürgermeisterin weiterhin. Wie schon mehrmals warf sie sich löwinnenstark vor vermeintlich Angegriffene. Sie müsse sich vor den Runden Tisch stellen, das sei aus dem Gremium an sie herangetragen worden. Von wem, ließ sie offen. Sie sehe es als ihre "Pflicht" an, die "Wertschätzung" wieder herzustellen, für Führungskräfte der Polizei, der Streetwork, der Psychiatrischen Klinik und ihrer eigenen Leute, die würden "sich wirklich Gedanken machen".
Wow. Ich denke, das ist ihr Job, wäre doof, wenn sie nicht überlegten, was sie tun. Aber selbstverständlich gebührt den Köpfen solcher Institutionen Respekt und Anteilnahme. Denn können Sie sich vorstellen, wie "Führungskräfte" mit den Tränen kämpfen und schlimmer, wenn sie nicht hören: "Ihr seid toll, wir sind so dankbar, dass ihr Euch während Eurer Arbeitszeit Gedanken macht." Führungskraft wird man vor allem aus Mitleid anderer, nicht weil man Ellbogen besitzt und einsetzt.
Gut, dass Frau Kalisch so empathisch ist. Wer sich vor andere stellt, stellt sich hinter sie -- um Kritik an sich selbst abzulenken, wer Böses über angebliche Opfer sagt, ist hundsgemein.
Amüsant, um bei der Ratsvorsitzenden zu bleiben, ging es später weiter. Die SPD machte den Vorschlag, der schon seit Jahren kursiert, ein Szene-Café für die Szene einzurichten. Dazu muss man sagen, für Menschen mit Schrammen an der Seele besteht das Stövchen, für Obdachlose der "Wendepunkt" an der Salzstraße, dazu die Herberge.
Sozialdezernentin Gabriele Scholz erklärte zur Innenstadtlage später, was viele wissen: Man könne nicht Obdachlose, Drogenkranke oder Alkoholabhängige als eine Gruppe sehen, also müsse man überlegen, für wen die Stadt so einen Treffpunkt einrichten solle. Wie lange will das Sozialdezernat nach drei Jahren Diskussion, die Scholz‘ Vorgänger angeschoben hat, noch grübeln? Daher ist der Satz der Sozialdezernentin amüsant: "Dass wir noch keine Räume gefunden haben, können Sie uns nicht anlasten, finde ich."
Nö, vielleicht dem Runden Tisch, vor den sich sich die Oberbürgermeisterin heldinnenhaft geworfen hat? In diesen obskuren schlagzeilenhaften Social-Media-Kanälen las sich diverse Male die völlig irre Idee, Container in den Park beim Museum zu stellen, mit Toiletten, Waschmaschine, Dusche, Kaffee und Sozialarbeit. Unglaubliche Visionen zerbröseln zu Versionen.
Noch mal zum Anfang und dem Satz, Zyniker seien enttäuschte Romantiker. Liebe Zitate-Jäger, dies ist nicht von Oscar Wilde: Kritik ist die Zärtlichkeit der Kolumnisten.
Ich hoffe, Sie genießen ein amüsantes Wochenende. Carlo Eggeling
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