Das alltägliche Morden
von Carlo Eggeling am 28.08.2023Die Banalität des Bösen steckt in einem Kinderschuh, klein, beiges Leder, ein wenig Fell, abgestoßen. Unscheinbar. Alltäglich. Eigentlich. Der Schuh ist Zeuge eines Mordes. Zu sehen ist er in der Ausstellung der Gedenkstätte der Psychiatrischen Klinik.
Der Schuh gehörte Rudi. Der Junge, 1929 in Arnswalde in Pommern geboren, floh mit seiner Mutter und Geschwistern 1944 vor der herannahenden Roten Armee. Deutschland verlor den Krieg, die Russen rückten vor. Die Familie strandete in Soltau, kam bei einem Mann unter, der "grob" mit den Flüchtlingen umging. Die Vermutung: Er meldete Rudi als "anstaltsbedürftiges Kind" bei der Polizei. Gegen den Willen seiner Mutter brachten ihn Beamte am 2. März 1945 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Es war sein Todesurteil, er verhungerte. Am 27. Juni 1945 starb er -- da war Lüneburg schon zweieinhalb Monate von der britischen Armee besetzt.
Die Klinik gehört von 1941 bis 1945 zu den reichsweit mehr als 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ in psychiatrischen Anstalten. Der Stand der Forschung: Von 727 dort aufgenommenen Kindern und Jugendlichen überlebten 425 die „Kinderfachabteilung“ nicht. Mindestens 300 Kinder und Jugendliche wurden vor Ort mit Medikamenten ermordet. Weitere rund 100 Kinder ließen Ärzte und Pflegepersonal verhungern. Eines dieser Kinder war Rudi.
Am Wochenende eröffneten die Leiterin der Gedenkstätte, Dr. Carola Rudnick, und ihre Mitstreiter die Ausstellung "Dinge erzählen". Sie ist bis zum Ende September im ehemaligen Gärtnerhaus zu sehen. Besucher können 25 sogenannte Erinnerungsstücke aus dem Besitz von Angehörigen der Opfer und Dinge, die man den Tätern zuordnen kann, betrachten und deren Geschichten kennenlernen. Das Besondere in Lüneburg ist, dass -- es ist Teil den Konzepts -- rund 50 Pflegeschüler die Schicksale der Opfer zusammengetragen und dazu künstlerisch gearbeitet haben.
Seit 2004 erinnert die Psychiatrische Klinik an das Grauen des Nationalsozialismus am Wienebüttler Weg, statt zu helfen, ermordeten Ärzte und Pfleger angeblich "lebensunwerte" Patienten. Systematisch. Der Psychosoziale Verein und die Geschichtswerkstatt legten die Wurzeln, 2015 übernahm der Verein Euthanasie-Gedenkstätte das Projekt.
Bei der Eröffnung sprachen der Ärztliche Direktor des Hauses, Dr. Marc Burlon, Bürgermeisterin Hiltrud Lotze, der Vorsitzende des Trägervereins, Henry Schwier, und Leiterin Carola Rudnick. Sie machten auf die Bedeutung des Hauses aufmerksam: Erinnern sei wichtig, wenn man die Zukunft gestalten wolle. Gerade in Zeiten eines erstarkenden Rechtsextremismus gelte es zu zeigen, welche Verantwortung wir heute tragen.
Rudis Geschichte soll Teil der Dauerausstellung werden. Das ehemalige Badehaus mit dem prägenden Wasserturm, des 1901 eröffneten Krankenhauses soll diese Ausstellung aufnehmen. Handwerker sanieren das Gebäude aufwendig, in zwei Jahren sollen sie die Arbeiten abschließen. Die Kosten für das Dokumentationszentrum veranschlagen die Planer mit rund 1,3 Millionen Euro.
Carola Rudnick und ihre Mitstreiter haben sich lange bemüht dieses Vorhaben umzusetzen, das PKL selber unterstützt diese Art der Geschichtsschreibung zwar, kann es allein aber nicht finanzieren, so geben unter anderem Bund und Land Geld dafür. Es ist eine Arbeit in vielen Schritten. Denn auch das Gärtnerhaus, das einst als baufällig und abbruchreif galt, wurde hergerichtet für Büros, Seminarräume und Bibliothek. Regelmäßig kommen Gruppen, um hier mehr über diese Seite der Lüneburger Vergangenheit etwas zu erfahren.
Zu der gehören Mörder im weißen Kittel: Ärzte und Pfleger, die Kinder, aber auch Erwachsene, die psychisch oder körperlich eingeschränkt waren, getötet haben. Wichtig ist dieses Erinnern nicht nur für die, die hier oder in anderen "Anstalten" ermordet wurden, sondern auch für die Familien, die um ihre Söhne, Töchter, Mütter, Väter trauern und so einen Ort dafür haben. Wie groß das Vertrauen in die Wissenschaftler und ihre Arbeit ist, können Besucher am Schicksal Rudis und seines Schuhs ablesen. Denn der Puschen ist das einzige, was seine Mutter als Erinnerung an ihren "Kleinen" behalten hatte.
Rudis Los wirkt in dieser Banalität des Bösen noch etwas furchtbarer, wenn man das sagen kann, als das Schiksal anderer. Die Tafel neben dem Schuh beschreibt es: Der Jugendliche wies keine epileptischen Anfälle oder zu behandelnden psychiatrischen Auffälligkeiten auf. Der zuständige Arzt Max Bräuner kam zu der Einschätzung: "Wenn er erst wieder hergestellt ist, könnte meines Erachtens dem Gedanken seiner Entlassung nähergetreten werden." Sechs Tage später verhungerte der Junge in der Kinderfachabteilung. Carlo Eggeling
Wer die Ausstellung besuchen möchte, meldet sich vorher an montags bis freitags von 8 bis 14 Uhr unter: 04131 6020970.
Das Foto zeigt Dr. Carola Rudnick mit den Pflegeschülern Leonard Lindooren und Lea Dammann. Die Leiterin der Gedenkstätte hält den Schuh des ermordeten Rudi in den Händen.
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