Das große Zählen der Illusionen
von Winfried Machel am 15.06.2025Kleine Bühne, große Meinung
Von Winfried Machel
Das große Zählen der Illusionen
Es gibt Orte, da wird mit Zahlen gezaubert wie einst bei David Copperfield. Doch während der wenigstens ehrlich sagte, dass es Illusion ist, verkauft man uns in Lüneburg die Illusion als Wirklichkeit. Die Zauberstäbe heißen hier: Frequenzzähler, Bewegungsmelder und automatische Besuchermagier.
Die Formel klingt einfach: Wer oft durch die Tür läuft, zählt als Kunde. Fertig ist der statistische Beweis für eine blühende Innenstadt. Dumm nur, dass die Realität wenig Lust hat, sich dieser Mathematik zu beugen. Da betreten vier- und fünfköpfige Familien den Laden. Kaufinteresse: einer. Der Rest vertreibt sich die Zeit mit Schaufensterbummel, Orientierungsgesprächen und Regalfachinspektion. Doch die Zählanlage am Eingang ruft begeistert: Fünf Kunden! Tagesziel erreicht!
Noch absurder wird es bei unseren Touristen: Fragen stellen, Postkarten angucken, ein Prospekt mitnehmen – der Frequenzzähler applaudiert, die Kasse bleibt stumm.
Und dann die Krönung: die großen Stadtfeste. 120.000 Besucher beim Stadtfest, 40.000 beim verkaufsoffenen Sonntag – so liest es sich jedenfalls in den Erfolgsmeldungen der Stadtmarketing-Broschüren. Was man dort nicht erwähnt: Gemessen wird nicht, wie viele Menschen kamen, sondern wie oft sich etwas bewegte. Ein Fußgänger, der dreimal am Zählautomat vorbeischlendert, wird dreimal als neuer Gast gefeiert. Jogger, Lieferanten, Pendler, Hundebesitzer, die berühmte Omi auf dem Weg zum Bäcker — sie alle pushen die Statistik. Rechnet man die Dopplungen raus, bleiben von den vermeintlichen 120.000 Besuchern plötzlich nur noch 25.000 übrig.
Doch diese kleinen Details stören niemanden in den klimatisierten Konferenzräumen der Marketinggesellschaften. Dort wird mit stolzgeschwellter Brust präsentiert, wie gut sich die Innenstadt entwickelt. Händler, die tagtäglich echte Umsätze zählen statt bewegter Luft, dürfen sich derweil in Online-Meetings erklären: „Wie kann es sein, dass bei 500 Besuchern nur 30 Einkäufe getätigt wurden?“
Die simple Antwort „Weil 470 keine Kunden waren“ passt nur leider nicht ins Erfolgskonzept.
Hier wird nicht gezählt, hier wird geglaubt. Die Frequenz ist zum Fetisch geworden, zum Heiligen Gral der Wirtschaftsförderer. Hauptsache, die PowerPoint-Grafik glänzt. Ob die Händler davon leben können? Egal. Denn Zählillusionen lassen sich leichter vermarkten als harte Wahrheiten.
Vielleicht wäre es ehrlicher, künftig einfach die Anzahl der Stadttauben als Indikator für den Innenstadtbesuch zu nehmen. Die sind wenigstens zuverlässig da — und flattern nicht ständig zwischen Realität und Wunschdenken hin und her.
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am 15.06.2025 um 12:57:12 Uhr
am 16.06.2025 um 08:48:48 Uhr