Der Kaffee des Johann Sebastian Bach
von Carlo Eggeling am 16.12.2025Das Viagra der Renaissance ist weiß. Drei getrocknete Wüsteneidechsen wirken, als ob sie seit einer Ewigkeit in einem Bett aus ätherischen Lavendel geschlummert hätten. Dr. Julia Wellsow schüttelt sie aus aus einer Porzellandose, als Scinci Marini sind sie in einem in Verzeichnis von 1475 notiert. Zerstoßen eingenommen sollten sie die Kraft der Lenden stärken. Doch auch gegen Vergiftungen hätten die Reptilien helfen können. Hoch droben in der Kräuter- und Materialkammer der Alten Raths-Apotheke lagern Schätze einer Pharmazie wie in einem vergessenen Museum. Die Apotheke, die an der Bäckerstraße liegt und der benachbarten Apothekenstraße ihren Namen gab, feiert ihren 550 Geburtstag. Sie ist eine der ältesten Apotheken Deutschlands.
Julia Wellsow und ihr Bruder Paul kennen die Geschichte des Hauses und seine Geschichten, sie haben sie aufgeschrieben. Jetzt liegen sie in einer Broschüre vor, die in der modernen Apotheke im Erdgeschoss erhältlich ist.
Doch wer die von hunderten Füßen geschliffenen Stiegen in die Kammern emporsteigt, reist in eine andere Welt. In Schubladen, Gläsern und Schachteln lebt Medizin vergangener Jahrhunderte weiter. Absonderungen von Krebsen dienten als "Augensteine". Die Apothekerin weiß: "Sie sollten den Tränenfluss steigern. Das dürfte funktioniert haben, ob es auch gesund war, ist etwas anderes."
Heilkundige Frauen kannten sich mit Wirkstoffen aus. Im Wahnsinn der Scheiterhaufen galten sie manchen als Hexen. Das Wissen wanderte zu Apothekern. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zerdrückten die Apotheker in Mörsern nicht nur heimische Kräuter, sondern auch Pflanzen, Mineralien und Tiere aus dem Mittelmeerraum, Arabien und dem 1492 entdeckten Amerika.
„Cacao" war zum Beispiel als Kakaobutter gefragt, denn die hat einen niedrigen Schmelzpunkt und konnte samt Inhaltsstoffen zum Zäpfchen verarbeitet werden. Chinarinde half gegen Malaria, Myrrhe bei Zahnfleischentzündungen. Globalisierung ist keine Erfindung unserer Zeit.
Blättern im Geschichtsbuch. 1294 ist der erste Apotheker in Lüneburg nachweisbar, 1475 kauft der Rat der Stadt eine Apotheke an der Bäckerstraße 5, 1524 zieht sie um an ihren jetzigen Standort, die Bäckerstraße 9. Doch der Medizinschrank soll schöner und moderner werden, 1598 stellt Ulricus Luthmer das heutige Haus für die Stadt fertig.
Der Name „Alte Raths-Apotheke“ entsteht um 1700, als es für kurze Zeit anlässlich einer Pest-Epidemie eine zweite Apotheke Auf dem Meere in Lüneburg gab, die „Neue Raths-Apotheke“. Die alte Raths-Apotheke bleibt mehr als 350 Jahre in der Hand des Lüneburger Rates. Dann ist der Magistrat der Meinung, die Versorgung sei keine kommunale, sondern eine private Aufgabe. 1827 verkauft er die Apotheke, es folgen verschiedene Besitzer.
1972 übernimmt Gerd Wellsow, der Vater der Geschwister, Geschäft und Haus. Ihm war es ein großes Anliegen, alles zu erhalten. Unter anderem holte er 2009 den Restaurator Markus Tillwick in die Material- und Trockenkammer. Sie stellten fest, dass Schubladen aus älteren Brettern gefertigt worden waren. Dass unter den braun bemalten Fronten eine andere farbenfrohe Zeit zu Hause war: grünliche Ornamente.
Rechnungen im Stadtarchiv belegen, dass Daniel Frese und seine Werkstatt hier als Künstler und Handwerker arbeiteten. Frese, 1540 in Dithmarschen geboren, kam um 1570 nach Lüneburg und starb hier 1611. Er hat unter anderem allegorische Ölgemälde für die Große Ratsstube im Rathaus geschaffen, für die Lambertikirche malte er das Bild „Jerusalem". Als Kartograph fertigte er einen Abriss der Lüneburger Landwehr. Auch am Eingang ist seine Handschrift zu erkennen.
Belege, die Tillwick damals findet, stammen aus den Jahren 1598/99. Denen zufolge erhält Daniel Frese 477 Mark, 1 Schilling und 9 Pfennige „vor allerhande arbeitt so er ihn und ausserhalb der Apotheken gethaen". Viel Geld.
Das heute so prächtige Portal übermalten Zeitgenossen später. Bei einer Sanierung ließ Apotheker Wellsow 1989 quasi den Vorhang öffnen: Die Lust an Farbe und ihren Details strahlt seitdem wieder -- und bedarf Pflege. Feuchtigkeit lässt Farbe und Putz abplatzen.
Geschichte und Moderne vereinen sich hier. Heute führen Dr. Julia Wellsow und Thomas Heuer die Apotheke. Wie andere spüren sie Herausforderungen. Julia Wellsow sagt: "2010 gab es 21 500 Apotheken in Deutschland. Heute sind es rund 17 000." Doch sie ist sich sicher, wie ihre Vorgänger werden sie es schaffen, weiter zu machen.
Enden soll der Ausflug mit einer Anekdote, die der verstorbene Gerd Wellsow augenzwinkernd erzählte: Als der junge Johann Sebastian Bach zwischen 1700 und 1702 als Eleve an der Michaelisschule büffelt, kommt er manches Mal an der Raths-Apotheke in der Bäckerstraße vorbei. Er schnuppert den Duft frisch gebrühten Mokkas, der aus der 1693 im Keller eingerichteten Kaffeestube zieht. Diese Mode haben der Legende nach die Türken in Europa bekannt gemacht bei Feldzügen, die sie bis vor Wien führten.
Lächelnd erzählte Wellsow: „Lüneburg hat Bach zu seiner Kaffee-Kantate inspiriert." Das Werk des Komponisten soll um 1734 im Zimmermannschen Kaffeehaus in Leipzig aufgeführt worden sein und blickt ironisch auf die Unsitte des täglichen Kaffeetrinkens. Geschichte(n) können wunderbar sein. Auch bei einem Kaffee. Carlo Eggeling
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