Lüneburg, am Dienstag den 23.09.2025

Die Aufräumerin

von Carlo Eggeling am 23.09.2025


Lüneburger Gesichter (79) + In lockerer Reihe stelle ich unbekannte Bekannte vor

Sie sei "Aufräumerin", sagt Gabriele Valerius. Keine Entrümplerin, nein, Aufräumerin. Sie kommt, wenn Wohnungen und Häuser überquellen. Kleiderschränke, die voll sind, weil die breitschultrige Mode aus den 80ern eventuell wieder modern werden könnte. Außerdem waren die Jacken teuer. Es können auch Stifte sein, die ein Geschäftsmann auf Messen präsentierte. Nicht mehr zu verkaufen, aber noch einsatzbereit. Ganze Abseiten voll mit Stiften. Kochbücher können ein Thema sein. Aus Selbstverständnis: Eine Frau muss kochen können, auch wenn sie es gar nicht mag, am Herd zu stehen.

Der Kram ist das eine, das andere ist der Kopf. Aufräumen eben. "Ich finde mit Menschen heraus, was ihnen wichtig ist", sagt Gabriele Valerius. "Das Wenigste kaufen wir, weil wir es brauchen." Warum dann? "Als Belohnung, weil wir uns etwas gönnen wollen. Aber auch als Kokon für vermeintliche Sicherheit." Was wir besitzen, behütet uns.

Es wird philosophisch, zur Lebensfrage. Wer sich reduziere, beschäftige sich mit sich selbst -- wie definiere ich mich? Das könne schmerzen: "Was passiert, wenn man in die Stille geht?" Wer sich von Dingen trennt, räumt womöglich nicht nur Kram beiseite, sondern setzt andere Punkte im Leben.

Das kennt Gabriele Valerius aus ihrem Leben. "Mit Anfang zwanzig war ich nicht ordentlich. Chaos." Sie räumte so gut auf, dass eine Freundin sie fragte: "Kannst du mit meinem Mann aufräumen?" Bei dem Bauträger türmten sich Ordner auf dem Boden, Projekte, Genehmigungen, Anträge. Er blickte nicht mehr durch. "Wir haben außen angefangen und arbeiteten uns durch in die Mitte." Übersicht, Durchsicht, Weitsicht.

Die gelernte Kosmetikerin und Kauffrau kümmerte sich neben Familie und Co um Kunden. Ärzte, Architekten, Makler. Sie räumte auch bei sich auf. Eine Trennung, die bedeutete sich von einem Keller voller Erinnerungen, Geschirr und Deko zu trennen. Sie hatte Schreibmaschinen gesammelt: "Als ich die mit Wattestäbchen saubermachte, habe ich mich plötzlich gefragt, was machst du da?" Trennung. "Mir wurde bewusst, ich definiere mich über Dinge." Vor acht Jahren zog sie aus dem Taunus in den Landkreis Lüneburg. Noch mehr Trennen: "Ich konnte und wollte nicht alles mitnehmen. Ich habe meinen Besitz um 80 Prozent reduziert."

In ihrer Wohnung haben Sachen ihren Platz, klar, aber warm. Helle Wände, Bilder, Fotos, CDs gibt es nicht mehr: "Ich streame." Bilder bedeuten Erinnerung. Wichtig und richtig. Vielleicht eine Last? "Wenn ich an einem Kleid hänge, weil ich es mit dem ersten Kuss verbinde, kann ich mich fragen, nötig? Oder ist es nicht das Gefühl, das es ausmacht?"

Das kann nach Luxusproblem im Wortsinne klingen. Wer viel hat, findet Erfüllung im zeitgeist-angesagten Minimalismus. Es gibt die andere Strömung frei nach dem Philosophen René Descartes: Ich zeige, also bin ich. Teure Kleider, teure Uhr, Designermöbel. Und es gibt die, die vielleicht gar nicht in der Lage sind, sich so viele Fragen zu stellen, weil sie mit ihrem Geld gerade über die Runden kommen.

Gefragt ist der Service von Gabriele Valerius auf jeden Fall. Sie hält Vorträge und gibt Kurse, die ausgebucht sind. Mund-zu-Mund-Werbung bringe Kunden, Info-Zettel, eine Seite im Netz. Der Ansatz: "Ich beurteile niemanden nach seinem Stand der Ordnung." Menschen hätte ihre Geschichten. Wer sie bucht, trifft sie zu einem Kennenlernen: "Die Chemie muss stimmen." Die Kunden eint die Scham vor dem Chaos. Es gebe Menschen, denen könne sie nicht helfen: "Vielleicht kann es eine Therapie das."

Hausbesuch in Lüneburg. Ein Mietblock. Die Frau, die öffnet nennen wir Gunda. Sie führt in ein Arbeitszimmer. Die besondere Ordnung scheint gebannt. "Messis sind Leute, die überorganisiert sind", sagt Gunda. Aktenordner reihen sich dutzendfach aneinander. Garagen, Nachmieter, Garten, VdK, SoVD, Kundenkarten steht darauf. Im nächsten Regal bewachen Kartons eine gebändigte Flut von Papier. In einem Korb liegen die die nächsten Zettel. Etwas von der Stadt, eine Gebrauchsanweisung für ein Senioren-Notfall-System, ein Werbezettel. Es habe hier ganz anders ausgesehen, erzählt die Seniorin. "Ich habe gehäufelt, alles sortiert. Prospekte zum Beispiel, hätte sein können, dass ich etwas brauche." Sollte sie sich das entgehen lassen? Auf keinen Fall. Irgendwann sah sie ein: "Ich habe einen Defekt. Ich brauche Hilfe."

Nun ist sie zufrieden. Gabriele Valerius komme alle paar Wochen vorbei, um zu unterstützen. Allein das Wissen darum, scheint Ruhe und Gelassenheit zu schenken. Gemeinsamkeit. Das Chaos der Welt mit ihren Kriegen, dem Hunger, der lahmenden Wirtschaft bleibt draußen. Wer kann das aufräumen? Eine Insel ist schon mal etwas.

Was braucht Gabriele Valerius auf ihrer Insel, die sie in einem Haus in einem Elbdorf gefunden hat? Wenig, meint sie. Aber die Tagebücher, die müssen sein. Von manchen Erinnerungen trennt man sich eben doch nicht. Das hat mit dem Herz zu tun. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


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