Lüneburg, am Mittwoch den 14.05.2025

Ein ganz naher Moment

von Carlo Eggeling am 18.06.2023


Authentisch gehört zu den Lieblingsworten der Politik. So müsse man agieren, um das Volk zu erreichen. Claudia Kalisch legt großen Wert darauf, so zu sein. Am Freitag bewies die Oberbürgermeisterin, wie glaubwürdig sie das kann. Ein Mann, der sagte, er lebe seit 40 Jahren in Lüneburg und augenscheinlich angetrunken war, pöbelte, als sie auf der Bühne stand: "Was machen Sie in Lüneburg besser als das, was Sie in Amelinghausen verhaun haben?" Besonders nervte den Bürger, dass im umgestalteten Clamart-Park keine Flaschen gesammelt werden dürften. Die Oberbürgermeisterin: „Drehen Sie sich einfach um! Gehen Sie Pfand sammeln, werden Sie glücklich beim Pfandsammeln.“

Wow, habe ich gedacht, das muss frau sich trauen. Offen zu sagen, wie man das Gegenüber einschätzt – nicht jeder besitzt eben diese Offenheit. Vor allem nicht, wenn nahe liegt, dass jemand nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht. Man kann einen lautstarken Besucher eines Festes so vermeintlich in die Schranken weisen. Man kann darüber hinweggehen oder man kann sagen: „Wir wollen hier feiern und das Fest eröffnen, ich rede später mit Ihnen.“ Die beiden letzteren Varianten wären souverän.

Es ist ja öfter so, dass sich eher zufällig ein Menschenbild offenbart. Ein Freund und Wirt, der mir ein Video des Auftritts geschickt hat, kommentiert es so: „Es zeigt die pure Arroganz. Ich hoffe es geht viral.“ Nein, das kann es nicht mehr. Ein Facebook-Portal, das zwar betont "Wir sind keine Journalisten", aber ansonsten gern Stellung bezieht, hatte den eigenen Beitrag wieder gelöscht. Warum bloß? Weil darunter nicht stand "Danke Claudia" und die Initiatoren, die sich namentlich nicht zu erkennen geben, offenkundig nicht mit negativen Reaktionen gerechnet hatten?

Frau Kalisch nutzt die Pressestelle der Stadt gern für Foto-Auftritte. So durfte die Gemeinde mitverfolgen, dass sie volksnah bei der Tafel Suppe ausschenkte. Wer bei der Tafel um Lebensmittel bittet, kann auch aus der Klientel derer stammen, die alkohol- oder drogenkrank ist -- Wie passt das zusammen? Die Inszenierung fein, die Realität lieber nicht so nah?

Wie eindeutig sie sein kann, hatte die Oberbürgermeisterin bereits zum Jahreswechsel bewiesen. In einem Interview hatte sie ein Kollege angesprochen auf den Personalzuwachs in der Verwaltung. Der sei nötig, um handeln zu können, antwortete die grüne Politikerin und schob den Satz hinterher: „Keine Arme, keine Kekse.“ Das ist sicher lustig und deshalb kommt kleinlich daher, wer an das Medikament Contagan denkt, an Frauen, die es in den 1960er Jahren nahmen, Kinder gebaren, deren Arme und Beine verkümmert waren. Was ist einem Film über die Normalität von Behinderten wie "Ziemlich beste Freunde" als Witz durchgeht, ist in der Politik ein Statement. Frau Kalisch hat es stehen lassen, obwohl ihr das Interview nach journalistischem Brauch zur Freigabe vorgelegt wurde.

Ich habe mich damals gefragt, wie viel Mitgefühl hat jemand, der so einen Satz Zehntausenden Lesern vorlegt? Welche Berater beraten sie, haben die einen Einfluss auf sie oder schiebt sie Einwände zur Seite? Aber auch: Wo bleibt die Politik, wo bleiben Behinderten- und Seniorenbeirat bei solchen Witzen aus dem Lüneburger Rathaus? Denn da spricht nicht die private Claudia Kalisch, sondern die Frau, die für Lüneburg mit rund 80 000 Bürgern Position bezieht.

Ihr Vorgänger Mädge, damals Tarifführer der Kommunalen Arbeitgeber, hat sich übrigens ebenfalls sehr im Ton vergriffen, als er vor drei Jahren vor streikenden Pflegekräften sagte, sie mögen mal wieder zurück an die Betten gehen und sich um die Patienten kümmern. Das zu Kollegen, die in der Corona-Zeit mit Überlastung und Personalmangel zu kämpfen hatten, in deren Betten einige Kranke nicht gerettet werden konnten. Die Instinktlosigkeit haben die Gewerkschaften Mädge um die Ohren gehauen. Zu Recht.

Frau Kalisch hat im Anschluss schöne Stadtfest-Fotos hochgeladen, war im Rathausgarten beim Fest der Lüneburg Marketing fröhlich mit einem Glas Wein zu sehen -- alles richtig gemacht? Offenbar. In beiden Lüneburger Zeitungen kein Satz zum unangenehmen Eröffnungsmoment. Ob die Ratsparteien die Sätze aufgreifen? Sozialverbände und Initiativen, die sich ansonsten lautstark bei vielem zu Wort melden? Oder läuft es so wie beim Behinderten-Witz -- kann mal passieren.

Denn Lüneburg durchlebt einen Wandel. Mädge wurde in seinen letzten Jahren -- ob zu recht oder nicht -- neben anderen gern von sich stets moralisch sicher wähnenden Grünen und Linken attackiert. Neben der Versprechung des Wohnzimmers Innenstadt scheinen wir nun zudem im Schlafzimmer zu träumen, dösig und am liebsten ohne Aufregung. Denn gefühlsmäßig ist doch alles ganz schön. Und authentisch. 

In diesem Sinne noch ein paar frohe Stunden auf dem ansonsten gelungenen Stadtfest. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare

Kommentar von Zoe K.
am 20.06.2023 um 13:47:50 Uhr
Es ist nicht leicht, vor mehreren 1000 Menschen auf einer Bühne zu stehen und dann noch die richtigen Worte zu finden, wenn man überraschend von einem alkoholisierten Mitmenschen angebrüllt zu wird, im Hintergrund die Volksfestmucke von Fahrgeschäften wummert, man selbst keine Zeit aufgebracht hat, einen öffentlichen Auftritt zu proben und dazu von den mißmutigen Blicken politischer Gegner umringt ist.

Da ist es natürlich einfacher, ein befreundeter Wirt zu sein, der aus der Sicherheit der Menge heraus versucht, wie ein Heckenschütze Stimmung gegen Frau Kalisch zu machen und dann den medialen Beweis mit wertendem Wunsch nach Rufschädigung an Journalisten weiterreicht.
"Dagegen", "Empörung" und sofortiges Urteil ("Arroganz!") sind generell leichter, als empathisches Greifen einer Situation.
Dem Autor dieses Artikels oben sei gedankt, dass er selbstentschieden in der Lage ist, inhaltlich zu berichten und zu differenzieren. Vielleicht sollte er aber mal mit seinen zornerfüllten Wirt-Freunden die Situation im Nachhinein nochmal bei einem gemeinsamen Bier aufarbeiten, im persönlichen Gespräch: "Warum neigst Du zu solchen Hinterhältigkeiten, mein lieber Freund, mein Wirt?"

Ja, es wurden in der Situation viele Fehler gemacht, von allen Seiten:
- Der alkoholisierte Herr hat einen Moment gestört, der nicht ihm gehörte.
- Wäre einer der Herren auf der Bühne Frau Kalisch zur Hilfe geeilt, hätte sie auch schwächer gewirkt, als sie ist.
- Hätte eine Security schnell oder aggressiv durchgegriffen, wäre sich öffentlich an einem Schwächeren mit einem Anliegen vergangen worden.
- Authentisch reagiert hat Frau Kalisch in jedem Fall: Wer würde sich nicht wünschen, dass jemand, der einen versucht öffentlich niederzubrüllen, sich umdreht, weggeht und sich eine sinnvolle Aufgabe sucht, die sowohl der Ordnung dient als auch etwas Geld einbringt?

Zugegeben sei: Wortwahl und Formulierung sind für Politiker selbstverständlich zentral wichtig, hier besteht natürlich auch bei Frau Kalisch noch Entwicklungsbedarf.

Ich finde gut, dass die lokalen Zeitungen den Fall nicht aufgegriffen haben, das ist doch eher ein Thema für die Vielzahl der Blogs, von den Privaten bis hin zu den Professionellen: So weltbewegend, sensationell und politisch entscheidend ist es nun auch nicht, wenn ein betrunkener Bürger eine Bürgermeisterin auf einem Stadtfest anbrüllt.

Ein Thema im Rat wird diese Begegnung bestimmt, das wird sich die Opposition nicht entgehen lassen. Interessant ist hier aber nur, wie dieses charakterlich aufgestellt ist: Geht es Ihr um das Anliegen des Bürgers, oder nur um sich über Frau Kalisch zu erheben?


Kommentar von Marion Kollenrott
am 20.06.2023 um 14:37:28 Uhr
"Wer bei der Tafel um Lebensmittel bittet, kann auch aus der Klientel derer stammen, die alkohol- oder drogenkrank ist -- Wie passt das zusammen? Die Inszenierung fein, die Realität lieber nicht so nah?"

Was hat der Verfasser des Artikels denn dagegen, daß bei der Tafel auch Menschen mit Alkohol- und Drogenkrankheit Hilfe bekommen?

Das sind doch auch Menschen in Not!
Der Schreiber zeigt hier, dass er selbst wenig Ahnung von Drogenerkrankungen hat: Oft fehlt es Menschen in Abhängigkeit gerade am Alltäglichen, an anständiger Mahlzeit und Hygieneartikeln, da die Sucht das gesamte Kapital beansprucht.

Somit hat der Schreiber sich wohl selbst gemeint, als er schrieb: "Die Inszenierung fein, die Realität lieber nicht so nah?"
Antwort von Lüneburg Aktuell
am 20.06.2023 um 14:51:42 Uhr
Marion Du musst wohl einen anderen Artikel als ich gelesen haben


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