Ein Schuh und der Tod
von Carlo Eggeling am 02.01.2024Die Geschichte des systematischen Mordens in Lüneburg ist oft erzählt. Und immer wieder neu. Bürokratisch tödlich und banal. Sie zeigt sich in Dingen. In einem Kinderschuh. Klein, beiges Leder, ein wenig Fell, abgestoßen. Wie Schuhe aussehen, in denen Kinder laufen lernen. Nichts besonderes, und doch, ganz besonders. Diese Geschichte geht so: Der Schuh gehörte Rudi. Der Junge, 1929 in Arnswalde in Pommern geboren, floh mit Mutter und Geschwistern 1944 vor der herannahenden Roten Armee. Deutschland verlor den Krieg, die Russen rückten vor. Die Familie strandete in Soltau, kam bei einem Mann unter, der "grob" mit den Flüchtlingen umging. Die Vermutung: Er meldete Rudi als "anstaltsbedürftiges Kind" bei der Polizei. Gegen den Willen seiner Mutter brachten ihn Beamte am 2. März 1945 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Es war sein Todesurteil, er verhungerte. Am 27. Juni 1945 starb er -- da hatte Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren, Lüneburg war bereits zweieinhalb Monate von der britischen Armee besetzt. Aber die Maschinerie des Tötens stoppte nicht. Nicht sofort.
Die Klinik gehört von 1941 bis 1945 zu den reichsweit mehr als 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ in psychiatrischen Anstalten. Der Stand der Forschung: Von 727 dort aufgenommenen Kindern und Jugendlichen überlebten 425 die "Behandlung" am Wienebüttler Weg nicht. Mindestens 300 Kinder und Jugendliche wurden vor Ort mit Medikamenten ermordet. Ärzte und Pflegepersonal ließen weitere rund 100 Kinder verhungern. Eines dieser Kinder war Rudi.
Die Klinik beschäftigt sich seit langem mit ihren grausamen Jahren und betreibt eine Gedenkstätte. Eine Ausstellung mit dem Titel "Dinge erzählen", zeigte das Haus Ende August. Erarbeitet hat sie Leiterin Dr. Carola Rudnick, ihre Mitarbeiter sowie 50 angehende Pflegekräfte. Sie recherchierten die Geschichte zu Rudis Schuh, zu Postkarten, einem Rollstuhl, einer Stickerei. Jetzt ist zu der Schau ein Katalog erschienen.
In der Einleitung schreibt Carola Rudnick darüber, wie ganz andere "Dinge" zurückkamen. Im Sommer 2013 bat der Vorläufer der Gedenkstätte zum ersten Mal zu einem Gedenken nach Lüneburg. Es ging -- wenn man es so sagen kann -- um den bürokratischen "Teil" des nationalsozialistischen Mordens. Die Ideologie ordnete Menschen neben "rassischen" auch aus medizinischen Gründen als "lebensunwert" ein. Behinderte und psychisch Kranke wurden zu Opfern. Systematisch erfasst und getötet.
Parallel sollte erforscht werden, welche Faktoren vermeintlich eine Rolle für die Erkrankungen spielten. Von zwölf in Lüneburg getöteten Kindern entnahmen Ärzte sogenannte Hirnschnitte. 577 Objektträger entdeckten Forscher Jahrzehnte später in den Beständen des Universitätsklinikums in Hamburg. Eine Ausstellung verbot sich, um die Würde des Opfer zu wahren. Dr. Rudnick und andere ermittelten die Angehörigen der Mädchen und Jungen, nahmen Kontakt auf, schufen Vertrauen. Es ging um das Schicksal von Söhnen, Töchtern, Geschwistern -- das nicht in jeder Familie bekannt war oder zumindest nicht so. Sie konnten Abschied nehmen, gemeinsam bestatteten sie die Überreste der Kinder auf dem Anstaltsfriedhof.
Dieses Vertrauen machte es möglich, dass Familien der Gedenkstätte Erinnerungen überließen, um dem Wissen aus Akten Schicksale zu geben. Eben auch Rudis Schuh, der so unscheinbar aussieht und doch vom Leben und Sterben des Jungen erzählt. Carola Rudnick, die auf Forschungen des verstorbenen Historikers Raimund Reiter zurückgreifen kann, suchte zunächst allein, später mit Pflegeschülern und Mitarbeitern den Kontakt zu Hinterbliebenen -- Geschichte besteht auf diese Weise nicht nur aus Fakten, sondern bedeutet überdies Anteilnahme und Miteinander.
Die "Dinge" sollen Teil der geplanten Ausstellung werden. Derzeit laufen Konzeption und Planung für den Umbau der "Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg. Sie soll bis August 2025 im ehemaligen Badehaus und im Wasserturm der Psychiatrischen Klinik Lüneburg für insgesamt 1,3 Millionen Euro neu eingerichtet werden, es entsteht ein Dokumentationszentrum mit einer neuen Dauerausstellung.
Rudolf "Rudi" Hagedorn ist nicht vergessen. Das ist auch eine Mahnung, diese Geschichte darf sich nicht wiederholen. Daran zu denken ist nach wie vor wichtig und nötig. Heute noch etwas mehr. Carlo Eggeling
Das Foto zeigt Dr. Carola Rudnick mit den Pflegeschülern Leonard Lindooren und Lea Dammann. Die Leiterin der Gedenkstätte hält den Schuh des ermordeten Rudi in den Händen.
Den Katalog können Interessierte über die Gedenkstätte beziehen. Weitere Informationen unter: info@gedenkstaette-lueneburg.de
Kommentare
Zu diesem Artikel wurden bisher keine Kommentare abgegeben.