Lüneburg, am Montag den 18.08.2025

Ein Mann, den jeder kennt

von Carlo Eggeling am 03.11.2024


In lockerer Reihe stelle ich unbekannte Bekannte vor + Lüneburger Gesichter (69)
Der Mann, der immer da ist — Gustav Diesterhöft wird 80

Lünebuch gehört zu den Lieblingsorten Gustav Diesterhöfts. Der Laden an der Grapengießerstraße hat zwei Anziehungspunkte: Zeitung kostenlos lesen, der Kaffee aus dem Automaten kostet einen Euro. Wichtig, wenn man rechnen muss. Auf dem Weg vom Sand hat er mit einer Zange aus einem Abfalleimer zwei Dosen gefischt, Pfandgeld. Der ehemalige Verkäufer der Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt gehört zu den bekannten Gesichtern der Stadt. Schiebermütze, der Anzug eines Arbeitsmannes wie aus vergangener Zeit, Sandalen, dicke Socken und ein Gesicht mit einem Walross-Bart. Eine Geschichte? „Na, gut, wenn Sie meinen.“ Ja, denn es gibt einen guten Grund: Herr Diesterhöft wird heute 80 Jahre alt. Glückwunsch.



Lange Jahre stand er am Eingang der Bäckerstraße und verkaufte seine Zeitung. Passte irgendwann nicht mehr. Doch die Stadt blieb Revier und Wohnzimmer. Seit etwa zwei Jahrzehnten, denn mit genauen Daten ist es ein wenig schwierig.



Wir springen ein wenig. Den Wechsel aus Bad Bevensen nach Lüneburg erzählt er so. Er habe umziehen wollen, doch in einer Einrichtung im Roten Feld habe man ihn nicht aufnehmen wollen. Das habe er Oberbürgermeister Ulrich Mädge erzählt: „Der hat immer bei mir gekauft und hat gesagt, er hilft mir.“ Es dauerte, doch dann konnte er ins Heiligengeiststift ziehen: „Ein Segen.“ Wohl habe er sich gefühlt, bis zum Brand vor fünf Jahren, da war alles weg. Die Bauarbeiten dauerten länger als geplant, nächsten Monat dürfe er zurück.

Jetzt lebt er in einer Einrichtung in Häcklingen, zur Miete kommt eine Betreuungsgebühr, von der Diesterhöft nichts hält. Sein Leben ist ungewöhnlich. „Ich brauche keinen Strom.“ Kein Kühlschrank: „Ich kaufe jeden Tag, was ich brauche.“ Kein Herd: „Wenn ich kochen will, fahre ich nach Hannover in den Saftladen.“ Dort könne man kostenlos einen Herd benutzen, müsse nur seinen Kram mitbringen: „Kartoffeln, Öl, Sülze.“ Deftig und lecker.



Zum Essen fährt er gern nach Hamburg. Donnerstags. Eine Kantine in Altona. „Für Rentner gibt es einen besonderen Preis. Eintopf für 3,20 Euro. Kann jeder kommen, auch Millionäre, die zahlen dann 6,90.“ Ober schon mit so einem Reichen am Tisch gesessen habe, wisse er nicht. Wäre auch egal.



Zugfahren gehört dazu. 49-Euro-Ticket. Aber die Bahn bietet noch mehr, wenn man rechnen muss. In den Waggons kann er sein Handy aufladen, kostenlos das W-LAN nutzen, da liest er dann zum Beispiel Lüneburg aktuell und Lgheute.

1100 Euro Rente bekomme er, 460 davon macht die Miete aus. Gebühren für Fernsehen und Radio müsse er zahlen, obwohl er seit 1988 keinen mehr habe. Ach ja, kein Strom: „Für das Radio habe ich Batterien.“ Das passe schon.



Er brause sich ab und an kalt ab, Waschen geht mit dem Lappen. Kleidung bekommt er auch sauber. „Mein Anzug ist aus Drillich. Wie Sträflingskleidung weltweit. Das ist nicht dreckig, sondern ausgeblichen.“ Er rollt einen Ärmel runter, tiefes Blau. Drillich ist eine Mischung aus Baumwolle, Leinen und Chemiefaser, extrem strapazierfähig.



Der Lüneburger mit dem Berliner Singsang in der Stimme kennt viele, doch Freunde habe er nicht. Es klingt zurückgezogen, es klingt nach großer Unruhe. Morgens um acht los in Häcklingen. Viel auf den Beinen, wenn er nicht mehr könne, nach Hause. Ins Bett, Radio, Lesen. Zufrieden sei er, sagt er.

Sein Leben begann in Ostpreußen. 1944. Krieg. Flucht. Er landet in Berlin. Ein Jahr ist er alt. Familie, gab es irgendwie nicht. Heime, Pflegeeltern. Nichts, was sich zu erzählen lohne. Nach der Schule findet er keine Lehrstelle: „Das war anders als heute.“ Mit 16 geht es nach Hamburg, Elektriker, verschiedene Firmen, auf Montage: „Auch nach Afrika, einmal für eineinhalb Jahre, dann für ein Jahr.“ Geheiratet hat er auch. Doch seine Irmgard starb, da war er „46, 47 Jahre alt. Danach habe ich Scheiß gebaut, bei der Arbeit, ich konnte mich nicht konzentrieren“. Arbeitslos, dann Hausmeister.



Er wollte zu Fuß von Hamburg nach Sizilien, in Etappen, im Urlaub. Die erste Tour, sechs Wochen, bis Lindau. Nächstes Jahr weiter. Doch beim Wandern stürzte er in den Bergen ab. Böse, ein Bein ist seitdem steif. Er war ewig krankgeschrieben, was tun? „Ich ging in Rente mit Abschlägen“. Sechzig sei er da gewesen. So erzählt er es.



Irgendwann Lüneburg. Inzwischen sein Zuhause, seine Welt mit den vielen Ausflügen, mit dem Leben so anders wie das der meisten. Nun ist er 80 Jahre alt. Eine Feier soll es nicht geben. Auch nichts Besonderes zu essen. Kuchen möge er nicht, er holt ein Glas mit zwei Bockwürsten aus der Tasche. Außerdem ist heute verkaufsoffener Sonntag. Programm.



Mit 80 denkt man ans Ende, auch Gustav Diesterhöft. Er lächelt das erste Mal im steten Fluss der Rede: „Die Sargnägel werden kürzer. Ja. In Lüneburg möchte ich meinen letzten Atemzug tun.“ Die Stadt ist Heimat. Und der letzte Atemzug bestimmt noch lange hin. Alles Gute. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare

Kommentar von Christel John
am 03.11.2024 um 22:14:13 Uhr
Für mich sehr besonders, immer positiv und sehr freundlich. Ich wünsche Ihm alles Gute und hoffe er kann im Dezember wieder eine Wohnung im Heiligengeiststift beziehen.
Kommentar von Angelina damico
am 07.11.2024 um 08:51:40 Uhr
Was für eine aufregende und tolle Geschichte. Ich kenne ihn, ich bin seid 10 Jahren Busfahrerin in Lüneburg und er steigt sehr oft bei mir ein. Wirklich ein sehr netter Mensch.
Ich wünsche ihn alles gute nachträglich zum Geburtstag und alles gute.



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