Gefährliche Normalität
von Carlo Eggeling am 24.05.2025Meine Woche
Schaf. Blau. Alternative
Ich weiß nicht, wie oft ich in Hamburg an Gleis 13 und 14 stand, um den Zug nach Lüneburg zu nehmen. Gestern Abend wurde das meistens proppenvolle Gleis zum Tatort, eine Frau soll wahllos auf Menschen eingestochen haben. Aktuell heißt es, 14 Reisende wurden verletzt, einige lebensgefährlich. Die Verdächtige, eine Deutsche, soll in einem "psychischen Ausnahmezustand" auf andere losgegangen sein. Viele dieser Taten geschehen weit weg, gefühlt rückte es jetzt ziemlich nahe heran. Mein Schwiegersohn arbeitet in Hamburg. Ihm ist nichts passiert. Welch ein Glück.
Augenscheinlich leben wir in einer anderen Zeit. Wahn und Terror treffen uns willkürlich. Wir leben in einer anderen Zeit, weil das Morden durch das Internet live zu erleben ist. Vor 50 Jahren hat der Prozess gegen vier Mitglieder der Roten Armee Fraktion begonnen, vierfacher Mord wurde ihnen vorgeworfen. Insgesamt rechnet man der RAF 33 Morde zu an Politikern, Managern, an Polizisten und amerikanischen Soldaten, mehr 200 Verletzte gab es bei einem Attentat auf die deutsche Botschaft in Stockholm.
1980 starben bei einem Anschlag des Rechtsterroristen Gundolf Köhler auf das Münchener Oktoberfest 13 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt. Der Bombenleger soll ein Einzeltäter gewesen sein, daran bestehen große Zweifel. Der Nationalsozialistische Untergrund tötete aus rassistischen Motiven zwischen 2000 und 2007 neun Menschen.
So viele Taten, es geht fast durcheinander, wenn man sagen soll, was wo geschah. Solingen, Magdeburg, Brokstedt, Hanau, Berliner Weihnachtsmarkt. Und und und. Und nun? Es kann jeden treffen, überall. Rufe nach mehr Sicherheit. Am Hauptbahnhof gilt eine Waffenverbotszone, Polizei und Sicherheitsleute der Bahn überall. Das Messer war gestern trotzdem da.
Wie eine Karikatur wirken jedes mal die Legosteine aus Beton, die bei Feiern wie neulich auf dem Markt hingelegt werden. Was bitte sollen die verhindern? Warum fährt die Stadt die Klötze für eine Party auf, aber nicht mittwochs uns sonnabends, wenn Hunderte und Tausende zum Wochenmarkt kommen? Der heitere leichte Satz Erich Kästners bekommt so eine irrsinnige Schwere: "Das Leben ist immer lebensgefährlich." Bei aller Vorsicht, bei allen Maßnahmen, es hilft nichts, damit müssen wir leben. Was haben wir sonst für ein Leben?
Markt, es gibt auch etwas zu lachen. Friedensfest. Ich weiß, hinter der Aktion steht eine große Botschaft: eine Herde blauer Schafe. Die Farbe gemahnt an EU, UNO, Friedenstaube. Das Schaf gilt als friedvolles Tier. Toll. Aber eben auch als dumm, lenkbar als Herde und vor allem nicht sonderlich wehrhaft. Der Wolf weiß das bestens. Dazu blau, war das nicht auch die Farbe einer blödsinnigen Alternative für Deutschland? Bisschen schafsköpfig, dieser mehr als zwanzig Jahre alten Idee hinterherzulaufen. Gut gemeint, muss inzwischen nicht gut sein.
Gelacht wird in Kreisen, die ihm nicht grün sind, über einen leitenden Mitarbeiter der Stadtverwaltung, der sich im Netz scheinbar mutig stets gegen die AfD ausmärt, aber nun Schafe der Aktion in der Stadt verteilt: "Da kommt der mit den AfD-Schafen." Gemein. Der meint es doch gut.
Etwas mit der Salzsau zu machen, der Lüneburger Kunstaktion schlechthin, wäre originell gewesen. Wer will das schon. Lieber das Motto der Schafe: "Alle sind gleich – jeder ist wichtig." Oder langweilig.
Wenig lachen können sie im Amt Neuhaus. Eine Fähre fällt aus, in Richtung Wehningen und Dömitz ist die Bundesstraße gesperrt, über Lauenburg ist es ebenfalls eng nach Lüneburg und Bleckede zu kommen. Fällt der Wasserstand der Elbe noch weiter, fällt mit der zweiten Fähre auch die Schule in Bleckede aus? Klar, eine Brücke ist zu teuer, finanziell mitdenken muss man die Anbindungen etwa von Dahlenburg bis zum Strom, Laster, die durchs enge Neuhaus ächzen. Umgehungsstraße? Alles Mist. Super teuer.
Von 100 Millionen Euro für die Brücke gehen Planer aus. Wenn der Landkreis so viel einkalkuliert für ein Projekt, das am Ende nichts wird, wie wär's mit 20, 30 Millionen für Infrastruktur, schnelles Internet, Kultur, Wohnungen einer kommunalen Gesellschaft. Rückkehr aus übervollen Städten aufs Land. Die Region attraktiv machen. Von Brahlstorf ist man mit dem Zug zügig in Hamburg, mit dem Auto schnell an der Bundesstraße nach Schwerin und in Richtung Autobahn nach Berlin. Neue Ideen, Mut?
Na ja, auf den Deichen weiden Schafe. Auch schön, blau anmalen, dann ist es noch friedlicher. Gemein?
Tut mir leid. Es liegt wohl daran, dass ich etwas über und von Wilhelm Busch gelesen habe. "Kritik des Herzens" heißen die Gedichte des Schriftstellers und Zeichners von 1874: „Ach, ich fühl es! Keine Tugend / Ist so recht nach meinem Sinn; / Stets befind ich mich am wohlsten, / Wenn ich damit fertig bin.“
Gutes Wochenende, Carlo Eggeling
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