Gutachter hat Zweifel an eigenem Gutachten
von Carlo Eggeling am 22.01.2024Der Prozess hätte eigentlich heute enden sollen, denn die Sachlage schien klar. Doch plötzlich steht das Gutachten in Frage, auf dem die Anklage in weiten Teilen fußt: Der Gutachter selber räumte Zweifel an den Ergebnissen ein. Nach der Tragödie von Toppenstedt im vergangenen Sommer dürfte es ein zweiter schwerer Schlag für die Beteiligten sein. Die Staatsanwaltschaft wirft Stefan I. fahrlässige Tötung in zwei und fahrlässige Körperverletzung in elf Fällen vor. Das Geschehen ist bekannt: Bei einem Vater-Kind-Zeltlager hatte Stefan I. am 24. Juni 2023 in der Gitterbox seines Radladers zwölf Kinder und einen Erwachsenen durchs Dorf gefahren. Der Kasten löste und überschlug sich. Ein Fünfjähriger und ein 39-Jähriger starben, elf Kinder wurden verletzt, einige lebensgefährlich, darunter auch zwei Töchter des Angeklagten.
Die 4. Große Jugendkammer am Landgericht will klären, was zu dem Unglück geführt hat. Doch dass der Gutachter seine eigene Expertise anzweifelte, sorgte nicht nur auf den bis auf den letzten Platz gefüllt Zuschauerbänken und bei Journalisten für Erstaunen. Vorsitzender Richter Dr. Michael Herrmann: "Wir haben mit vielem gerechnet, aber nicht damit." Der Angeklagte selber stellte eine Theorie auf, warum sich die Box gelöst haben könnte, diesen Ansatz hatte der Gutachter nicht bedacht. Fragen dazu konnte er nicht eindeutig beantworten. Nun also eine weitere Prüfung, die Verteidigung kündigte an, prüfen zu wollen, einen eigenen Gutachter hinzuzuziehen.
Fast eine Dreiviertelstunde schilderte Stefan I., was aus seiner Sicht geschehen war. Der 44-Jährige übernahm auch die Verantwortung: "Es hätte nicht passieren dürfen. Ich stehe zu den Konsequenzen." Er habe Familien Leid zugefügt. Er bedauere, trauere, sei demütig und fühle sich hilflos. Drei Touren habe es gegeben, die seien fröhlich gelaufen, auf Bitten der Mädchen und Jungen sei er dann noch einmal losgefahren -- ein Unglück.
Oberstaatsanwalt Heinrich Dresselhaus legt Landwirt I. zur Last, dass sich die Box während der Fahrt gelöst habe, sie sei nicht ausreichend gesichert gewesen, zudem sei ein Bedienhebel ausgelöst worden, so dass sich der Kasten löste. Überdies sei ein Mechanik kaputt gewesen, das habe der Angeklagte ebenso gewusst wie dass Radlader und Box nicht zugelassen waren, um solche Fahrten zu veranstalten.
I. erklärte, er habe Sicherheitschecks durchgeführt, die seien nicht auffällig gewesen, er nutze den Radlader seit elf Jahren, kenne das Gerät. Am 24. Juni habe er Kisten transportiert, er hätte gemerkt, wenn Sicherheitshaken nicht eingerastet wären. Sein Ansatz: Ein bestimmtes Lager sei defekt gewesen, daher sei Hydrauliköl ausgelaufen, ein schleichender Prozess. Das würde in der Konsequenz eine technische Ursache bedeuten. Drei Kinder hätten mit ihm in der Fahrerkabine gesessen. Es steht im Raum, dass jemand an einen "Joystick" gekommen sein könnte, die Gabel des Radladers sich deshalb geneigt habe -- mit tödlichen Folgen.
Der Gutachter konnte nach den Ausführungen nicht mehr ausschließen, dass das defekte Hydraulik-Ventil eine Rolle gespielt haben könnte. Staatsanwalt, Nebenkläger und Verteidiger Dirk Meinecke diskutierten in einem langen Hin und Her über den Winkel eines Hebels und dessen mögliche Auswirkungen auf das Ventil. Auf Fragen des Vorsitzenden gab der Sachverständige keine klare Antwort. Also eine weitere Untersuchung.
Das Ergebnis könnte Auswirkungen auf das Strafmaß haben. Dass es zu einem Freispruch kommt, ist allerdings eher unwahrscheinlich: Stefan I. wusste, dass sein Fahrzeug technische Probleme hatte und eben auch, dass er es so hätte nicht nutzen dürfen.
Das Leben in Toppenstedt hat sich verändert. Stefan I. hat sein Amt als Bürgermeister niedergelegt. Der Kontakt zu den Hinterbliebenen, am Anfang noch vorhanden, sei nach Bekanntwerdens des Gutachtens abgerissen, sagte er. Im Gerichtssaal saßen einige, die dem Angeklagten verbunden scheinen, eine größere Gruppe traf sich nach der Verhandlung vor dem Gericht mit I. und dessen Frau. Aber es gibt andere, die mit den Familien der Opfer fühlen. Es muss schwer für die Mutter des kleinen Jungens sein, das Geschehen im Gericht zu verkraften -- sie saß Stefan I. heute gegenüber.
Der Prozess soll am 6. Februar, 9.30 Uhr fortgesetzt werden. Carlo Eggeling
Die Fotos zeigen Szenen aus dem Gericht und Bilder der Polizei aus Toppenstedt.
Kommentare
Zu diesem Artikel wurden bisher keine Kommentare abgegeben.