Lüneburg, am Montag den 18.08.2025

In der Residenz der Langeweile

von Carlo Eggeling am 22.02.2025



Meine Woche
Jogginghose
Man darf glücklich sein, dass ein bedeutender Dichter ab und an in Lüneburg lebte. Heinrich Heine besuchte seine Eltern Anfang des 19. Jahrhunderts mehrmals im Witzdorff‘schen Palais vis-à-vis des Rathauses. "Residenz der Langeweile" nannte er die Stadt und ihre Bürger. Provinz. Das war ein bisschen gemein. Nun, Heine besaß einen weiten Geist, er reiste viel herum, musste fliehen vor Enge und Verfolgung, lebte in Paris. Heute würde niemand auf Residenz der Langeweile kommen. Oder?

Es sei denn, man geht ins Wasserviertel. Da hängt ein Werbeschild für die Roten Rosen. Ich glaube, man darf sagen, an Heine reicht das nicht heran. Eher an Kekse, Sofa und Mattscheibe im bequemen Nachmittagsjogginganzug. Eine Visitenkarte bedeutet eine gewisse eigene Definition, Rote Rosen. Jogginganzug. Wow.

Alles sei mit dem Denkmalschutz abgestimmt, heißt es aus dem Rathaus zum Werbebanner. Mit dem eigenen? Ob die Abteilung die Satzung "über die Gestaltung der baulichen und technischen Anlagen und Werbeanlagen zum Schutz der Altstadt Lüneburgs" kennt? In Paragraph 11 heißt es: "Werbeanlagen dürfen nur an Gebäuden und der Stätte der Leistung angebracht werden. Zusätzliche Produkt- und Markenwerbung ist nicht zulässig." Ich würde sagen, der Alte Hafen samt Kran ist nicht Stätte der Leistung, oder? Schilder gehören neben den Fernseher im Wohnzimmer. Jogginganzug. Aber wen kümmert schon die eigene Vorgabe?

Lüneburgs kreativste Abteilung, das Stadtmarketing, bezahlt die Stadionatmosphäre mit Werbebanner. Immerhin vier verkaufsoffene Sonntage und ein Stadtfest stellt die gute gelaunte Truppe auf die Beine. Mehr geht kaum. Machen die daher auch nicht. Deshalb: Rote Rosen ist schon was. Jogginganzug.

Fragen nach einem Tourismus-Konzept, das in den Blick nimmt, dass immer mehr Häuser zum Domizil für Ferienwohnungen werden, das die finanziell angeschlagene Kulturlandschaft einbindet mit Theater, Museen, der quicklebendigen Kulturbäckerei, um deren Überleben zu sichern und den Schatz zu beleuchten, eine Idee, die in Lokalen mehr als nur die freundliche Toilette mit der Pinkelpause für alle sieht? Nee, wir haben Rote Rosen. Jogginganzug.

Wie schön, dass überall zu hören ist, Lüneburgs Kapital sei die tolle Architektur, die bis in die Renaissance und ein Stück weiter zurückreicht. Deshalb kommen Gäste. Wenn kümmern da leere Geschäfte? Ein halbes Jahrhundert Arbeitskreis Lüneburger Altstadt als steten Mahner lobt die Rathausspitze gern, nur wenn die engagierten Bürger Blechschilder im Wasserviertel oder die seltsam vertrocknet aussehenden Grünen Oasen auf dem Markt als grottenhässlich und deplaciert bezeichnen -- da hört die Chefetage irgendwie weg. Wer so viel zu tun hat, kann sich nicht um alles kümmern. Irgendwann ist mal Jogginganzug angesagt.

Residenz der Langeweile. Dieser Heine. Lange tot. Ach ja, ob die Fernsehleute den Krempel abschrauben, wenn sie am Kran drehen? Wenn historischer Optik und so?

Wahl steht an. All das vor der Kulisse einer Welt, die entweder wieder im Imperialismus ankommt oder vor der sich der Kampf um Einflusssphären nur deutlicher zeigt. Versprechen, von denen alle wissen, dass sie am Ende nicht eingehalten werden können. Was soll man sagen? Appelle gibt es reichlich, zur Wahl zu gehen. Kann ich mich nur anschließen. Meinungsfreiheit, Menschlichkeit, Mut für die Demokratie, die Widerspruch provoziert, produziert, aushält und etwas daraus macht. All das, was ein paar Hundert Kilometer östlich nicht geht

Etwas Getragenes von Alt-Kanzler Willy Brandt passt vielleicht: "Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht."

Jogginganzug reicht da nicht. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare

Kommentar von Werner Schaffel
am 23.02.2025 um 02:37:18 Uhr
Etwas, das vielleicht auch ganz gut passt, ist das sinnreiche Heine-Gedicht über den Schreibenden als Doppelgänger und über das, was ihn wirklich bewegt:

Still iſt die Nacht, es ruhen die Gaſſen,
In dieſem Hauſe wohnte mein Schatz;
Sie hat ſchon längſt die Stadt verlaſſen,
Doch ſteht noch das Haus auf demſelben Platz.

Da ſteht auch ein Menſch und ſtarrt in die Höhe,
Und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt;
Mir grauſt es, wenn ich ſein Antlitz ſehe, —
Der Mond zeigt mir meine eigne Geſtalt.


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