Lüneburg, am Samstag den 04.10.2025

Kommt mal in die Gänge

von Carlo Eggeling am 19.08.2025


Über Jahrhunderte gehörten Buden zur Stadt dazu. Tagelöhner und Salinenarbeiter lebten mit ihren Familien in kleinen Hütten. Es gab Gängeviertel. Wer hinsieht, findet ihre Spuren

Die Tür an der Rotehahnstraße ist keine 80 Zentimeter breit, aber es reicht, um einen Sarg hindurch zu tragen. Das war wichtig, denn hinter der in verblichenem Blau der Brettertür lagen bis in die 1950er Jahre drei Buden. Also Häuschen, in denen die wohnten, die nicht viel besaßen. Die Pforte zwischen den Häusern 7 und 11 ist ein Zeugnis einer Sozial- und Baugeschichte, die nur noch wenig bekannt ist. Das Leben in sogenannten Gängen. Der Architekt Heinz Henschke hat sie vor ein paar Jahren im Heft Denkmalpflege des Vereins Stadtarchäologie aufgeschrieben.

Wer in Lüneburgs große Hanse-Schwester Lübeck fährt, der kann auf der Altstadt-Insel durchs Gänge-Viertel streifen. Die Königin der Hanse hatte im Mittelalter eine ähnliche Herausforderung zu meistern wie auch Lüneburg: In den Mauern der Stadt war es eng, die Wirtschaft wuchs, die Bevölkerung auch. Der Platz allerdings nicht. Also schuf man auf den langgezogenen Grundstücken, Wohnraum für Tagelöhner, Träger, Hafen- und an der Ilmenau Salinenarbeitern. Zu erreichen waren die Buden über Durchgänge, die zu den wertvollen Straßenseiten in die Mauern gebrochen wurden. Mindestens Sargbreite eben, denn gestorben wurde dort natürlich auch.

Einst besaß die Stadt an der Trave rund 180 solcher Gänge, heute ist noch die Hälfte erhalten -- bewohnt und ein beliebtes Ziel für Touristen. Die kleinste dieser Lübecker Buden, in der Hartengrube Nr. 36, hatte eine Frontlänge von 3,45 Metern, eine Breite von 4,65 Metern und eine Höhe bis zum Dachfirst von knapp fünf Metern.

Malerisch gehen Gänge von der Straße mit dem schönen Namen Engelsgrube ab. Nicht weil dort ein gefallener Engel in die Grube fuhr, sondern weil die Stadt den "Englandfahrern", die ihre Schiffe be- und entluden, einen Teil des Hafens zuwies. Dort lagen damals noch Wiesen. Straßennamen wie "Engelswisch" erinnern an diese "Wiesen der Engländer".

In Lüneburg lassen sich in der Altstadt noch zwei kleine Pforten finden, an der Oberen Ohlinger Straße in Höhe der ehemaligen Schlachterei Olma und an der Unteren Ohlinger Straße. Kommen wir zu Zahlen. Tagelöhner und vergleichbare Berufsgruppen machten laut Henschke "rund 80 Prozent der Bewohner der Gänge aus. Weitere 14 Prozent waren Witwen und rund sechs Prozent Untermieter, die als Einzelpersonen häufig nur eine Schlafstelle zur Verfügung hatten. Die Haushaltsgrößen betrugen im Schnitt etwa vier bis fünf Personen, denen meist nur 25 Quadratmeter Wohnfläche, manchmal noch weniger, zur Verfügung standen". Henscke rechnet die Lübecker Einwohnerzahl von rund 23 000 auf 14 000 in Lüneburg um und geht davon aus, dass ein Drittel der Einwohner in Gängen lebte, mache also rund "4600 Einwohner, dies entspricht bei einer Familiengröße von vier bis fünf Personen etwa 1000 Familien."

Henschke hat in alten Plänen wie dem Urkataster von 1875 geblättert und liest daraus ab, was nahe liegt. Die Gänge oder Höfe, um die sich die Buden gruppierten, lagen nahe der Arbeitsplätze der Menschen, also an der Saline, dem salzigen Wirtschaftsmotor der Stadt, dazu am Hafen, wo das Weiße Gold verschifft wurde, und an der Ilmenau.

Die Namen der Gänge und Höfe änderten sich oftmals mit dem Wechsel der Eigentümer. So wie heute waren Immobilien ein lukratives Geschäft. Als der Salzhandel und damit alte Patrizierfamilien an Bedeutung verloren, übernahmen beispielsweise Handwerker und Brauer die Gebäude.

Meist lagen an einem Hof wie an der Schlägertwiete oder der Engen Straße fünf bis zehn Buden. Doch es konnten deutlich mehr sein, Hinter der Altenbrücker Mauer, heute ist es die Ilmenaustraße, drängten sich gut zwei Dutzend Buden. Die Vorderhäuser lagen zur Straße Bei der Johanniskirche. Auch im Wendischen Dorfe fanden sich die Buden. All das wirkte auf Maler Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts romantisch, wie eine Insel aus vergangenen Zeiten. Hugo Friedrich Hartmann, er hat unter anderem die Bahnhofshalle koloriert, fing ebenso Szenen ein wie der Bauhaus-Künstler Lyonel Feiniger, dessen Bilder heute in Museen hängen, der Lüneburg im Sommer 1921 besuchte.

Doch romantisch ging es so gar nicht zu an der Ilmenau. Wer hier lebte, lebte gefährlich. Zwei Cholerawellen schwappten im 19. Jahrhundert über Europa. Marianne Pagel schreibt in ihrer Sozialgeschichte Lüneburgs darüber. Zwischen 1847 bis 1859 erwischte es die Salzstadt achtmal: "768 Tote waren zu beklagen." Das lag daran, dass Dreck und Fäkalien auf Straßen oder eben in den Fluss geschüttet wurden.

Stadtphysikus Dr. Hillefeld, der Arzt der Stadt, notierte 1860, dass "die Weiber früh morgens die mit Exkrementen angefüllten Nachttöpfe in die Ilmenau schütteten und so einen Beitrag zur Verunreinigung der berüchtigten Abtswasserkunst lieferten". Die war ein Teil der städtischen Trinkwasserversorgung. Was unten rauskam, kam letztlich oben wieder rein. Auswertungen zeigten, die meisten Todesfälle gab es entlang der Ilmenau. Später führte die Stadt eine Kanalisation ein, dazu gab es ein Kübelsystem -- Männer holten in „Gold-Töpfchen“ menschlichen Unrat ab.

Hygiene sorgte mit dafür, die Zeit der Buden zu beenden. Installationen für Wasser, Gas, Elektrizität konnten aufgrund Platzmangels nicht untergebracht werden. Zudem war Zeitgenossen bewusst, dass die schlechte Durchlüftung und Enge ideale Bedingungen für Keime und damit Krankheiten waren.

Geschosswohnungsbau bot eine Alternative. Zwischen 1905 und 1915 wurden viele der noch bestehenden Gänge abgebrochen, berichtet Heinz Henschke. So verschwand die Form mittelalterlichen Lebens Stück für Stück. Nur wer genau hinschaut, entdeckt noch die Schatten dieser Vergangenheit. Carlo Eggeling


Die Fotos:

Heinz "Heiner" Henschke beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Lüneburger Baugeschichte. Als Architekt kennt er auch die Praxis. Er hat unter anderem Restaurierungsprojekte begleitet.

Bei einem Bummel durch Lüneburg, können wir noch kleine Türen zu den verschwundenen Gängen entdecken beispielsweise an der Rotehahn- und an der Ohlingerstraße. Es gab zudem Höfe, an denen sich mehrere Buden gruppierten. An der Schlägertwiete, an der Ilmenaustraße und im Wendischen Dorf sind sie zu sehen.

Auf der Altstadtinsel in Lübeck findet sich ein in dieser Größe weltweit einzigartiges Viertel von Gängen. Wer hinter dem Holstentor über die Altstadtinsel streift, entdeckt kleine Häuser, schmale Durchgänge und Gärten. Durch den Salzhandel waren Lüneburg und Lübeck eng verbunden.

© Fotos: ca / Henschke / Verein Stadtarchäologie


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