LoCarlo über eine Mondscheinreise voller Illusionen
von Winfried Machel am 09.07.2022Meine Woche
Sattelhelden
Allein wenn ich es lese, zwicken meine Waden: "2219 aktive Radfahrene" haben beim Stadtradeln mitgemacht. Was wären inaktiv Radfahrende? Gäste in einer Rikscha oder die, die hinten auf dem Gepäckträger sitzen? Aber das ist Speichenzählerei. Wer will das schon bei so einem großen Thema. Schließlich machen Radfahrer die Welt per se ein Stück besser. Laut Pressemitteilungen von Stadt und Landkreis haben die Sattelhelden 413 682 Kilometer binnen drei Wochen zurückgelegt. Das sei mehr ein Ritt mit der Apollo 11 zum Mond. Klingt mal toll. Umgerechnet pro Nase ergibt sich ein Durchschnitt von nicht einmal neun Kilometern pro Tag. Ist das heldinnenhaftn oder alltäglich?
Mich würde interessieren, ob die Werte im November und Dezember einen ähnlichen Mondscheintarif ergäben. Als die Aktion startete, sahen wir den Landrat und die Oberbürgermeisterin auf Rädern, auch die politischen Spitzen der Region mit dabei. Wow. Super! Ihre Werte werden leider nicht extra erwähnt. Wäre doch interessant, ob es nur ein schönes Bild gab oder ob das Duo wirklich so richtig in Sachen Mobilitätswende in die Pedale steigt.
Neulich bewegte die Oberbürgermeisterin wieder einmal etwas. Der südliche Teil des Kurparks wurde nun für Radler freigegeben. Frau Kalisch strahlte auf einem bestimmt ganz spontan geknipsten Bild einen Wanderer abklatschend ab — auf einem Leihrad. Wahrscheinlich hatte sie ihr eigenes in Reppenstedt nur stehenlassen, weil die Reifen von den vielen Touren durchgewetzt sind.
Besonders klasse sind ja zwei Momente an diesem von Verkehrsdezernent Markus Moßmann begleitetem Spektakel, der war für den Part bedenkenreich übrigens schon der Wahl im vergangenen Herbst zuständig. Zum einem frage ich mich, warum sich die Uelzener und ein bisschen verunglückt die Soltauer Straße zu Radlerhighways wandeln müssen, wenn die schönste Route unter einem Baumbaldachin an tobenden Hunden und altersreifen Spaziergängern vorbeiführt. Große Praxis beweist zudem der Entschluss, die Bahnbrücke über die OHE-Strecke auszunehmen. Jeder Radfahrer steigt die 20 bis 30 Meter ab. Ganz sicher.
Wenn das Radfahrern so attraktiv ausfällt, kann man den Buskunden ein bisschen etwas abzwacken. Um Berge und Brodbänken busfrei zu bekommen, streichen der stets lächelnde Verkehrsplaner des Landkreises und die Politik die Verbindung etwa zwischen Kreideberg und Kaltenmoor. Vor Jahren galten die sogenannten Durchmesserlinien als mega. Bequem praktisch. Nun also weg damit. Vom Sand zum Bahnhof, dann über Reichenbachstraße und Co. zurück auf den Berg. Und statt im 20-Minuten, nun im Halbstunden-Takt. Klingt attraktiv. Oder auch nicht.
Aber jedenfalls sind nun die Busse weg, schön für Radler und die vielen, die mit ihren Autos durch die Füßgängerbereiche brummen. Denn die bleiben ja. Der große Wurf fällt direkt vor die Füße. Wo bleiben Poller mit Nummernschilderkennung, die nur berechtigte Fahrzeuge von der Taxe über den Handwerker und den Anwohner durchlassen und die PS-starken Brumm-brumm-Freunde aussperren? Wo bleiben kleine Elektrobusse, die auf dem inneren Stadtring dauernd kreisen und auch Parkhäuser ansteuern? Die so gebaut sind, dass Rollatoren, Rollstühle und Kinderkarren mühelos mitfahren können?
Das ist selbstverständlich Utopia. Deshalb strampeln wir uns kommendes Jahr wieder beim Stadtradeln ab. Eine Mondscheinreise voller Illusionen. Aber gut. Ich radle mal zum Sport und ein bisschen obendrauf; am Ende des Tages habe ich so durchschnittlich 20 Kilometer im Sattel hinter mir. Kann ich jetzt etwas gewinnen oder bin gar ein Gewinn fürs Weltklima? Carlo Eggeling
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