Meine Woche — Was kommen sollte
von Carlo Eggeling am 24.06.2023Meine Woche
Change. Echt
Andreas Meihsies und die Grünen, das war, das ist keine einfache Geschichte. Er saß für die Partei im Landtag, hat lange Zeit im Rat grüne Politik gemacht. Er fand unfreundliche Worte für Parteifeinde und die ebensolche für ihn. Man trennte sich. Doch die Themen ließen den Mann nicht los, vor zwei Jahren trat er als Oberbürgermeisterkandidat an und nervte die Grünen mit grünen Themen. Eins davon: Uelzener und Soltauer Streße jeweils zu Einbahnstraßen machen, um den Verkehr stadtein- beziehungsweise stadtauswärts jeweils nur in eine Richtung fließen zu lassen, mehr Platz für Räder und Busse. Unterstützt wurde Meihsies vom über Parteigrenzen hinweg geschätzten Uni-Verkehrsexperten Professor Peter Pez.
OB wurde der grüne Ex-Grüne nicht, aber die Straßen-Idee blieb. Als Teil der Verkehrswende. Wahlgewinnerin Claudia Kalisch, Mitarbeiter im Rathaus sowie Verbände griffen den Vorschlag auf. Als Versuch sollte es losgehen. Nun fragte Meishies nach, was denn daraus geworden sei. Ergebnis: Die für das Experiment mit 80 000 Euro veranschlagten Kosten fanden sich nicht mehr im Haushalt 2023. Meishies tat, was er tun musste: Er informierte die LZ. Nun wissen wir, dass es nix wird mit den Einbahnstraßen, es sei denn, die Politik schiebt das Projekt wieder an.
Aber schiebt die? Man weiß es nicht. Bislang konnte man ja frohen Herzens sein. Also gefühlt. Denn als der Rat vor eineinhalb Jahren beschloss, der Initiative Klimaentscheid beizutreten, leuchtete uns eine grüne Zukunft. Demnach will die Metropole in der Heide bis 2030 klimaneutral leben. Zwar nannte die Ratsvorlage das hehre Projekt bereits damals Luftschloss: "Es handelt sich bei dem zu treffenden Beschluss daher lediglich um eine Zielvorstellung, die nicht garantiert werden kann." Schön, dass wir mal drüber reden.
Eben. Vom Globalen ins Lokale: Das große Vorhaben Verkehrswende scheitert an angeblich 80 000 Euro? Im Ernst? Geht's nicht eine Nummer kleiner? Mit ein paar Blumenkübeln, Barken und Schildern, schwupps wandeln sich die Pisten zu Einbahnstraßen, und man schaut, ob's funktioniert. Wo wir beim Geldausgeben sind: Warum hält die Verwaltung an der Hunderttausende teuren Idee fest, an der Hindenburgstraße den sichersten Radweg der Stadt auf den Asphalt zu verlegen, obwohl die Polizei nichts weiß von angeblicher Unfallgefahr, die durch offene Autotüren dräut? Dazu Warnungen, die Straße sei dafür viel zu eng.
Wo sind die den Grünen zugetanen Initiativen Klimakollektiv, Klima- und Radentscheid, um Druck zu machen? Wer sich auf der Ostumgehung bei der Radler-Demo abstrampelt, müsste jetzt erst recht zur Speichenparade aufrufen. Aber wahrscheinlich ist gerade irgendwie viel zu tun, das Rad hat 'nen Platten, man und frau kann sich nicht um alles kümmern.
Anderes Thema. Das Soziale. Da hatte sich Claudia Kalisch eine Menge vorgenommen, wenn man in ihr Wahlprogramm schaut: "Bei allen Unterschieden in der Sache sind mir Respekt und Wertschätzung aller Menschen wichtig. Nur so kann es gelingen, am Ende gemeinsam etwas zu bewegen." Bei der Eröffnung des Stadtfestes lief es, sagen wir, suboptimal: Ein Betrunkener hatte die Oberbürgermeisterin angepöbelt. Claudia Kalisch reagierte angefasst: "Drehen Sie sich einfach um! Gehen Sie Pfand sammeln, werden Sie glücklich beim Pfandsammeln." Ist das der Blick auf die Bürger, die schwierig, mutmaßlich drogen- und alkoholkrank sind? Respekt und Wertschätzung aller Menschen in der beschworenen Stadtgesellschaft?
Als es darum ging, die erwartbar vielen Flüchtlinge aus der Ukraine unterzubringen, waren sehr schnell laute Klagen aus dem Rathaus zu hören, Bund und Land ließen die Kommunen allein. Andere Bürgermeister besorgten Container als halbwegs angemessene Unterkünfte, Lüneburg beschlagnahmte Turnhallen.
Was ist mit der offenen Drogenszene, die vom Clamartpark durch Bauarbeiten vertrieben wurde und nun am Museum tagt? Wo bleiben Überlegungen für einen Tagestreff mit Kaffee, Waschmaschinen, Beratung? Was ist mit dem Konzept Housing first für Wohnungslose? Noch einmal aus dem Wahlprogramm von Frau Kalisch: "Als Nachhaltigkeitsmanagerin mit Erfahrung aus Wissenschaft, Freier Wirtschaft und Verwaltung, habe ich stets alle Säulen im Blick: Wirtschaft, Umwelt und Soziales – nur wenn wir alle Perspektiven zusammenbringen, kann es funktionieren!"
Wo bleibt die Politik, die gern vorm Auseinanderdriften der Gesellschaft warnt und sich wundert, dass eine Partei Erfolge feiert, deren einziger Ansatz darin besteht zu meckern, dagegen, aber vollkommen konzeptionslos zu sein? Kann es sein, dass nicht allein der unentschiedene, zerstrittene Regierungs-Dreikampf für Unzufriedenheit sorgt, sondern auch die visionslose Provinz?
Nun hat sich Claudia Kalisch ein paar Tage nach dem Stadtfest entschuldigt. Eigentlich eine gute Sache. Sie ist auf dem Sand bei der Biertrinkerfraktion aufmarschiert, in der Nähe unter anderem Sozialdezernent Florian Forster, eine Pressesprecherin und ein Sozialarbeiter, der den Kontakt vermitteln sollte. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, auf mich würde so ein Tross einschüchternd wirken.
Wie viel Inszenierung erleben wir, wenn die Lokalzeitung über den Auftritt verständnisvoll mit einer halben Seite berichtet? Übrigens waren die Kollegen bei der Eröffnung am Freitag dabei und brauchten bis Mittwoch, um im Blatt zu reagieren. Frau Kalisch wird zitiert, dass "ich mich über mich selbst ärgere". Doch so dolle habe sie ja nichts falsch gemacht: "Das war von dem Mann eine echte verbale Aggression, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Der wollte die Eröffnung dieser fröhlichen Veranstaltung wirklich sprengen. Ich selbst habe mich unglücklich ausgedrückt. Sollte das Menschen getroffen haben, die auf das Pfandsammeln angewiesen sind, bitte ich um Entschuldigung."
Aber gut, sie ist mit ihrem Blick nicht allein. In der Lokalzeitung lasen wir zur Stadtfesteröffnung einen verstörenden Absatz besonderer Empathie: "Eine obdachlose Bettlerin hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrem Kinderwagen voller Habseligkeiten aus der Bäcker- in die Bardowicker Straße verzogen. Schmälerte der Kontrast zwischen ihrem Schild „Ich habe Hunger“ und den in den Ständen angebotenen Leckereien zwischen Pizzas und Germknödeln den Bettellohn?" Wow, geschmälerter Bettlerlohn.
Die Kollegen vergleichen die Reaktion der Oberbürgermeisterin überdies mit Helmut Kohl, der 1991 in Halle auf Leute losgehen wollte, die ihn mit Eiern beworfen hatten. Mal abgesehen davon, dass der Vergleich hinkt, denn Kohl wurde nicht nur verbal angegangen, der Kanzler der Einheit und die Oberbürgermeisterin in einer Liga? Muss man erst einmal drauf kommen.
Egal. Zum Wochenende noch ein Blick in das Programm von Frau Kalisch: "Wenn wir die jetzt drängenden Probleme weiter liegen lassen, wird es am Ende teurer – für alle. Und das soziale Ungleichgewicht wird sich verschärfen. Die Zeit drängt! Echt." Da hat sie recht. Carlo Eggeling
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