Normalität, die in vier Katastrophen endet
von Carlo Eggeling am 06.02.2024Das Wort Katastrophe fällt viermal in der Urteilsbegründung: Es sei eine Katastrophe für Opfer, Hinterbliebene, den Angeklagten und die Dorfgemeinschaft. Vorsitzender Richter Dr. Michael Herrmann zieht die juristische Bilanz nach dem "Radlader-Unfall" von Toppenstedt am 24. Juni vergangenen Jahres. Ein Junge und ein Erwachsener starben, elf Mädchen und Jungen wurden verletzt, einige von ihnen so schwer, dass sie bleibende Beeinträchtigungen erlitten haben könnten, darunter zwei Töchter des Angeklagten. Ein Jahr und drei Monate Freiheitsstrafe, welche die 4. Große Jugendkammer am Landgericht auf drei Jahre zur Bewährung aussetzt, lautet das Urteil. Anders als sonst in solchen Fällen üblich kommt keine Geldauflage hinzu: Der Angeklagte werde für Ansprüche der Familien der Opfer wahrscheinlich zivilrechtlich aufkommen müssen, dazu kommen die Verfahrenskosten samt Gutachten sowie die Kosten der Nebenklage.
Es war ein fröhlicher Vater-Kind-Tag samt Grillen und Zeltlager in dem 2200-Einwohner-Dorf bei Salzhausen. Solche Tage hatte es schon in der Vergangenheit gegeben.Wie in anderen Jahren machte der Bürgermeister, der sein Geld als Landwirt verdient, seinen Radlader samt eines Gitterkorbs zu einer Art Karussell: Zwei-, dreimal hoben Väter ihre Kinder in die Box für eine Tour über ein paar hundert Meter, Lachen, Gaudi. Alles wie immer. Eigentlich sollte Schluss sein, doch Kinder quengelten, noch eine Tour. Na gut. Die Katastrophe.
Die Gabel des Radladers senkte sich, bohrte sich einen Wimpernschlag lang in den Asphalt des Weges, das Gefährt verkantete, die Box löste sich, Überschlag. So schilderte es der Gutachter dem Gericht. Der Fahrer habe keine Zeit mehr gehabt zu reagieren: "Es war weniger als eine Sekunde. Selbst bei einer Geschwindigkeit von nur zehn km/h legt man drei Meter zurück."
Der Angeklagte hatte nach einer Erklärung gesucht. Seit elf Jahren besitze er den Radlader habe ihn ständig im Einsatz, jede Veränderung würde er bemerken, hatte der 44-Jährige am ersten Prozesstag gesagt. Er denke, es könnte einen Defekt an der Hydraulik gegeben haben, Öl könnte ausgetreten sein, daher hätten Sicherungen nicht gegriffen. Fragen dazu konnte der Gutachter da nicht ausreichend beantworten, er stellte seine eigene Expertise infrage; die Kammer beauftragte ihn, weitere Fragen zu klären.
Ergebnis: Es gab keinen technischen Defekt. Im Detail erklärte der Sachverständige, was er alles geprüft habe. Klar sei, dass Sicherheitsbolzen nicht gegriffen haben und ein Sperrmechanismus für den Hydraulikarm nicht eingeschaltet gewesen sei.
Der Verteidiger des ehemaligen Bürgermeisters I., der nach dem Unglück zurückgetreten war, Dr. Dirk Meinecke, sagte, es sei wichtig gewesen, eben diese Frage zu klären. Auch wenn das nicht jeder verstanden habe und 200 oftmals wütende Mails in seiner Kanzlei eingegangen seien. Es sei das Recht des Angeklagten, diese Frage klären zu wollen. Nun gebe es Gewissheit. Für alle.
Zu Wort kam die Mutter des getöteten Fünfjährigen, ihr Mann saß neben ihr. Tränen bei bei beiden. Die konnte auch mancher Journalist und im bis auf den letzten Platz gefüllten Zuschauerraum kaum zurückhalten, als sie erzählte, dass Mädchen und Jungen in der Kindergartengruppe noch heute um ihren Freund trauern, ein Mädchen keinen Geburtstag ohne den Jungen feiern wollte -- sieben Monate nach dem Unfall: "Es geht mir nicht darum, Herrn I. an den Pranger zu stellen, ich möchte die Tragweite schildern." Und: "Unser Leben liegt in Trümmern."
Wie soll man das Unglück fassen? Für den Staatsanwalt schwierig. Er verwies darauf, dass der Angeklagte bei allem Verständnis Verantwortung trage: So eine Tour in dem Gefährt habe es nicht geben dürfen, der Radlader sei verschlissen, Sicherheitsfragen habe der Angeklagte nicht geklärt. "Es gab kein technisches Versagen. Bolzen wurden aus Unachtsamkeit nicht geschlossen." Die Gefahren seien für den Bauern aufgrund seiner Ausbildung "vorhersehbar gewesen". Die Forderung: eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in elf Fällen. Fünf Jahre wären das höchste Strafmaß.
Die Kammer blieb darunter, 15 Monate, drei Jahre zur Bewährung. Richter Herrmann machte klar, dass das Urteil nur einen Beitrag für das Leben im Dorf leisten kann: "An der Aufarbeitung wird man noch lange zu tragen haben." Die Katastrophe für die Dorfgemeinschaft. "Es mag dazu beitragen, etwas Ruhe zu finden." Wahrscheinlich könne aber nicht jeder seinen Frieden mit dem Geschehen und den Beteiligten machen.
Herrmann schilderte die Normalität des Dorfes, die in der Katastrophe endete. Wer auf dem Land aufgewachsen ist, kenne es, dass im Winter 25 Schlitten hinter einen Trecker gespannt und durch den Schnee gezogen werden. So sei es mit der Spaß-Fahrt mit dem Radlader gewesen: "Es ist immer gutgegangen, niemand hat es hinterfragt." Das Risiko habe man ausgeblendet. Kaum ein Vater habe Angst gehabt. Auch nicht der Angeklagte, der zwei seiner Töchter in dem Korb gefahren habe. Doch die Routine sei gefährlich, manchmal tödlich. Das Geschehen aus Toppenstedt möge ein Signal sein, dass "es keine gute Idee ist, solche Arbeitsmaschinen zur Bespaßung einzusetzen".
Der Angeklagte hat seine Verantwortung eingeräumt, er will für die Folgen geradestehen. Freunde waren da, umringten ihn. Im Zuschauerraum saß seine Frau, Freundinnen standen ihr bei. Die Familie scheint nicht allein. Das bleibt auch zu hoffen für die beiden anderen Familien, in denen der Vater, der Sohn fehlt. Toppenstedt wird lange an dem Unglück tragen. Carlo Eggeling
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