Lüneburg, am Freitag den 19.04.2024

Nun ist er ganz gegangen

von Carlo Eggeling am 25.11.2022


Wolfgang Grimme prägte mehr als 30 Jahre die Lüneburg Gastronomie. Jetzt ist er gestorben

Manchmal geht jemand schon früher. Wenn es Nacht wird in seinem Kopf, verschwindet Vertrautheit wie die Kristalle, die durch eine Sanduhr rieseln. Bei Wolfgang Grimme begann das vor neun Jahren. Er fand Worte nicht, ärgerte sich viel zu sehr über seine Kellner, weil seine Gelassenheit schwand, konnte sich an Vergangenes nicht mehr genau erinnern. Sein heiteres Lebensmotto geriet ins Wanken: "C'est la vie, c'est pas la guerre, es ist das Leben, kein Krieg." Wenn wir zusammensaßen bei Apfelschorle und Kaffee wurde er grantig und traurig, weil er merkte, dass sich etwas in seinem Kopf veränderte. Ich habe gebraucht zu verstehen: er wurde dement. Sehr früh mit Anfang 60. Nun ist der Mann, der in Lüneburg ein gutes Stück Gastronomiegeschichte geschrieben hat, im Alter von 70 Jahren gegangen.

Mit seinem Namen verbinden sich September, Café Central, Tafelwerk und Capitol. Mit seinem Namen verbinden sich Höhepunkte und tiefer Fall. Nicht alles klappte, Insolvenzen und Chaos. Aber eben auch: wieder aufstehen.

Reisen wir in die Vergangenheit.

Wir lernten uns kennen, als ich noch im Schallander am Stint kellnerte und er mit Peter Kurka Ende 1986 nach Lüneburg kam, das „September“ Auf dem Kauf eröffnete, ausgestattet mit ausrangiertem Mobiliar einer schottischen Kirche. Zweite Reihe vom Stintmarkt. Schleppender Start. Die beiden ließen sich etwas einfallen. Zum Fasching saßen sie als Frauen verkleidet im bekanntesten Lüneburger Cafè an der Bäckerstraße: Rauno. Vor dreieinhalb Jahrzehnten despektierlich. Frech. Beste Werbung. Peter Kurka sagt: "Das war der Durchbruch, abends war es voll."

Sie wollten mehr, gründeten eine Kneipenkette namens „Kwatsch“, acht Lokale. Für 1991/92 waren gut 17 Millionen Mark Jahresumsatz angepeilt. Sie waren überall unterwegs, um für die System-Gastronomie zu trommeln. Sein Werbeleiter hieß Alfred Heger, der Mann, der später als selbst ernannter "Admiral" Kolumnist für die Lünepost schrieb. Es lief nicht wie gedacht. Die Filialen zu teuer hochgezogen, zu wenige Gäste. Die Bank machte nicht mehr mit. Läden wurden aufgeteilt, abgegeben, Wolfgang segelte in die Pleite.

Das tat weh, denn es war auch ein persönliches Scheitern. Es gibt aus dieser Zeit ein Bild, das der Karikaturist Charly Krökel gemalt hat. Es erinnert an die Band Clowns & Helden, die Wahl-Lüneburger waren noch ein Stück vom Durchbruch mit "Ich liebe Dich" entfernt, die Jungs um Carsten Pape spielten für kleines Geld auf der Galerie. Das Plakat ist immer noch im September und auf dessen Werbung zu sehen. Ein Clown, lustig, mit leerem, traurigem Blick. Wolfgang. Einer, der mit sich selber kämpfte, der litt. Vieles mit Humor überdeckte.

Aber er legte wieder los, mit seinem Freund Peter Kurka an der Seite. Café Central an der Schröderstraße. Der Vorgänger Kaffeemühle hatte nicht funktioniert. Umbau, andere Bilder. Der Laden war DER Laden. Unterschiedliche Vorstellungen, Kurka und Grimme gingen getrennte Wege.

Der Traum Tafelwerk. Eine Art Treibhaus angebaut an Heines Gasthaus in Ebstorf. Wieder eine Wirtschaft, ganz anders als alles in Lüneburg. Licht, Blumen, gehobene Küche. Pleite. Auch aus familiären Gründen. Dazu 2003 ein Infarkt. Wolfgang war fast tot. Ärzte holten ihn zurück. Sein halbes Herz funktionierte nicht mehr richtig, mühsames Berappeln. Trotzdem qualmte er seine Gauloise schachtelweise weiter. 2006 kam das Capitol. Aus dem alten UT-Kino wurde wieder ein angesagter Laden. Weil ungewöhnlich.

Die Berg- und Talbahn erklärt sich vielleicht schon mit dem Beginn. Immer eine Suche nach Anerkennung, der Wunsch, geliebt zu werden. Es gab einige, die er unterstützte, dankbar war nicht jeder. Der Mann, der Porsche fuhr, hatte es doch. Nein, nicht immer.

Er kam als Kind eines bekannten Hamburger Malers und einer jüdischen Sängerin zur Welt. Als er vier, fünf Jahre alt war, verschwand der Vater. Die Mutter starb wenig später. Seine beiden Geschwister kamen in eine Pflegefamilie, Wolfgang in ein katholisches Heim. "Das hat ihn immer begleitet", erzählt Wolfgangs Frau Birte. "Aufstellen in Reih und Glied, abgeputzt mit kratzigen Waschlappen." Vor allem aber der Schmerz, allein zu sein. Die Geschwister bevorzugt, so zu fühlen macht einsam und tut weh.

Später adoptierte ihn ein Paar, das keine Kinder mehr bekommen konnte. Es gab bereits einen Sohn, Matthias sollte einen Bruder haben. Der neue Vater verdiente sein Geld als Kaufmann, die Mutter arbeitete im Archiv des Spiegel. Als sein leiblicher Vater ihm ein ansehnliches Erbe hinterlassen wollte, schlug Wolfgang aus. Der Mann hatte ihn verlassen, im Stich gelassen. Von dem etwas annehmen?

Er studierte Sozialpädagogik, leitete ein Kinderheim in Hamburg. Er war, wie die Eltern, in linken Kreisen zu Hause. Die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff war zu Gast, bevor sie in Illegalität und Gewalt abtauchte. Als der Sozialarbeiter Grimme sagte, er könne manches der RAF verstehen, gab es einen Skandal. Der Innensenator habe eingegriffen. "Ich wurde suspendiert", erzählte er mir. Irgendwie rehabilitiert.

Das Leben wandelte sich: Heirat, Trennung. Er übernahm einen kleinen Markt auf dem Campingplatz in Grömitz an der Ostsee. Kaufte große Gebinde Klo-Papier, sorgte dafür, dass es auf dem Platz keines mehr gab -- und verkauft seine Rollen teuer. Bei solchen Geschichten konnte er herrlich verschmitzt lachen. Eine Kneipe in Neustadt mit Peter Kurka, andere Läden. Lüneburg.

Eine neue Ehe, drei Kinder. Es geht nicht mehr. Alles schwierig. In der Rumpelkammer am Stint lernt er Birte kennen, zieht sie als Kellnerin ins Café Central, verliebt alle beide. Sie ist 24 Jahre jünger als er, er findet, was er sucht: Liebe, Geborgenheit, gemeinsam Anpacken. Großzügig und verrückt: Er schenkt  ihr einen Flug mit der Concorde -- überschallschnell -- nach New York. Sie bleiben zusammen, nach Auf und Ab bauen sie das Capitol zusammen auf. Sie bleibt, auch als es immer schwieriger wird, weil der Kopf so düster wird, bis das Licht verlischt. Er lebt bis zum Schluss bei ihr. Ein Mann, der nichts mehr kann, niemanden mehr erkennt. Zärtlich, zupackend, manchmal verzweifelt, alles zu organiseren. Eine starke Frau, so zart wie sie ist.



Ich denke an ihn, wie wir zusammensaßen, der Kneipier und der Journalist ohne Bier, das ging bei mir nicht mehr, bei Kaffee, Wasser und Apfelschorle, Wie wir geredet haben über die Welt, gelästert haben über Kollegen, wie wir manche bewundert haben. Er belesen und klug, sensibel, hilfsbereit, anteilnehmend. Wie er mich besucht hat nach meinem ersten Herzinfarkt in der Reha in Timmendorfer Strand. Wie er mir da Mut gemacht hat, einfach weil er da war -- das Leben kann so schön sein. Das weiß man, wenn man die andere, die Seite mit den schweren dunklen Wolken erlebt hat. C'est la vie, c'est pas la guerre, es ist das Leben, kein Krieg.

Wir mochten beide den Hamburger Hafen. Spät in der Nacht in Ovelgönne stehen, rüberschauen auf das Containerterminal, wo die Carrier unter Flutlicht die Boxen wie beim Ballett grazil stapeln. Als es noch ging, so vor sechs Jahren, Wolfgang war schon wie ein kleiner Junge, habe ich ihn eingeladen auf eine Hafenrundfahrt. Er strahlte, die großen Frachter, aus der ganzen Welt, für die ganze Welt. So als ob man unendlich frei ist. Das bleibt, auch wenn er bald darauf nicht mehr wusste, wer ich war.

Er war nicht immer gut. Er war aber für andere da. Er hat Schulden hinterlassen, manchen arg getroffen. Er war großzügig, hat in der Familie seiner Frau vieles gefunden, was er als Junge entbehrte. Er war ein Filou mit einem blitzend charmanten Lächeln. Er konnte sehr traurig und sehr begeistert sein. Er war und bleibt ein Freund. Carlo Eggeling

Am 7. Dezember, 14.30 Uhr beginnt eine Trauerfeier auf dem Waldfriedhof.

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare

Kommentar von Fussy Trapp
am 25.11.2022 um 11:22:48 Uhr
Lieber Carlo….
Vielen vielen Dank für diesen wunderbaren Nachruf…
Hat mich sehr berührt…
Auch ich habe Wolfgang gut gekannt und ihn sehr gemocht….Er ist jetzt gegangen und findet hoffentlich den Frieden den er immer gesucht hatte…
Kommentar von Ulli Graetsch
am 25.11.2022 um 19:23:24 Uhr
Ersteinmal :Danke Carlo ,treffend und Punktlandung .
Wolfgang wird sicher oben bald die Heaven No 1 Bar eröffnen.Ein Wirt vom alten Schlag eben. Ruhe in Frieden
Kommentar von Monika Multerer
am 03.06.2023 um 14:37:51 Uhr
Danke an diesen wunderbaren, traurigen und berührenden Nachruf.
Auch ich durfte Wolfgang mal ein Stück begleiten.. es ist lange her. Damals in Grömitz und in Neustadt.
Und jetzt erst habe ich erfahren, dass es Wolfgang nicht mehr gibt. Obwohl soviel Zeit inzwischen vergangen ist, hat mich diese Nachricht sehr traurig gemacht. Denn er war eine schillernde, achtenswerte und liebevolle Persönlichkeit. Du fehlst!
Mach es gut, da wo Du jetzt bist. Sicher wirst Du auch da nicht die Füße stillhalten sondern gewaltig was anschieben . Sei es auf einer Wolke oder wo
auch immer.


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