Stadtradeln. — Gut fürs Gewissen
von Carlo Eggeling am 14.06.2025Meine Woche
Zahlen und Wahrheiten
Etwas fürs Gewissen zu tun, ist immer gut. Positive Stimmung macht heiter, der Blick auf die Welt ist entspannter. Ich habe es mir erklären lassen. Dieses Miesepetrige sei nicht gut. Neulich habe ich ein paar Zeilen zu den Schaufenstern im ehemaligen Lünebuch-Haus am Markt geschrieben. Es wehte Gegenwind: tolle Bühne für lokale Künstler.
Trotzdem sieht der Kasten so trist aus wie ein abgetakelter Weihnachtsbaum im Juni, auch wenn sich Kollegen Mühe geben, Lametta an den Strunk zu hängen -- es bleibt so wenig freudvoll wie Socken unterm Baum. Wie wäre es mit einem anderen Ansatz für den monatelange Leerstand, um im Sommer nicht an Weihnachten, sondern an blühende Wiesen und Felder zu denken? Kein Geld kann kein Argument sein, wenn die Stadt Millionen für Leerstand und Baubeginn irgendwann in 2026 hat.
Verständnis müsse man haben. Ist alles schwierig. Warum immer so duldsam? Es ist doch Sommer? Denken wir an die revolutionär-studentischen Spontis der 70er Jahre, die wussten: Unterm Pflaster liegt der Strand. Widerborstig und Lust aufs Leben.
Freuen wir uns. Stadtradeln ist etwas ganz Tolles, lese ich jedes Jahr wieder. Binnen drei Wochen hätten 3500 Teilnehmer 606 000 Kilometer abgestrampelt und 99 Tonnen CO2 vermieden. Das beeindruckt schon. Zumindest solange, bis man nach nachrechnet. Pro Radler und Tag ergibt es gut acht Kilometer Leistung. Wer von Reppenstedt oder Adendorf in die Stadt und zurückfährt, kommt auf mehr. Und vermiesen E-Bikes durch Akku und Stromverbrauch CO2-mäßig die Bilanz? Kleinlich, ich weiß.
Ach ja. Der Durchschnittsdeutsche produziert pro Jahr laut Bundesumweltamt per anno 10,4 Tonnen Co2, zwei Tonnen davon mache der Verkehr aus. 99 Tonnen eingespart, 3500 Teilnehmer. Sensationell.
Nachdem wir gefühlt die Welt ein bisschen gerettet haben, können wir uns mental aufs Stadtfest vorbereiten. Wieder ein Zahlenspiel. Es heißt, 120 000 Besucher kämen zu den tollen drei Tagen. Zu Erlebnissonntagen zählen uns die Marketingprofis 40 000 Gäste auf.
Nun schreibt mir ein alter Bekannter, der mit dem Thema bestens vertraut ist, der Wert sei im Wortsinne fabelhaft.
Für die Menge würden die Daten der öffentlichen Zählautomaten ausgewertet, "es ist eine Bewegungsmessung, keine Zählung". Eine Menge Menschen würden mehrfach vorbeilaufen, dazu kommen Boten, Leute die in der Stadt arbeiten, die nach Hause gehen. Angeblich müsste der Umrechnungsfaktor bei 4,5 liegen, also am Ende deutlich weniger: Macht nicht mal 9000 Besucher beim verkaufsoffenen Sonntag und 25 000 beim Stadtfest.
Nun wechselt ein Mitarbeiter vom Stadtmarketing zum Innenstadt-Team der Stadtverwaltung, um alles voranzubringen. 50 Leerstände gibt es. Tolle Konzepte auch, aber die gab es schon als 30 und dann 40 Geschäfte so belebt wirkten wie der Zentralfriedhof um Mitternacht. Der Wechsel-Mann war bei der LMG für das Thema Innenstadtbelebung zuständig. Die anderen sind ebenfalls als City-Experten seit Jahren dabei. Jetzt geht's los. Womit, werden wir erleben. Auf jeden Fall war das Foto der Crew zur Pressemitteilung schön. Weil Gruppenbilder grundsätzlich reizvoll sind, sie erinnern stets ans Warten an einer Bushaltestelle -- ein Aufbruch.
Eigentlich ist alles so schön wie bei Potemkinschen Dörfern. Die Fassaden, die ihr Fürst Potjomkin bei einer Reise in neueroberte Gebiete zeigte, sollen der russischen Zarin Katharina der Großen 1787 gut gefallen haben. Allerdings waren die Häuser nur bemalt. Na ja. Irgendwas ist immer.
Miesepetrig. Wenn es Ihnen nicht gefällt, seien Sie nachsichtig. Ich habe vorhin Udo Lindenberg und Jan Delay gehört, die mit einem Zitat des Komödianten Ödön von Horváth spielten: "Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu."
Heiter bleiben. Sommer. Falls Sie sich über den Preis einer Kugel Eis von 1,80 oder 1,90 Euro ärgern, in Dresden habe ich gerade vier bezahlt. Lächeln. Gutes Wochenende. Carlo Eggeling
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