Unschuldig und doch schuldig — Patienten in der Psychiatrie
von Carlo Eggeling am 06.09.2024Nato-Draht auf meterhohen Zäunen, Sicherheitsschleusen und Kameras. Dann zwei Männer an der Tür, die klingeln, ihre Namen sagen, nach einem Moment öffnet sich die Pforte. Sie sind wie jeder andere frei durch den Park der Psychiatrischen Klinik gelaufen. Wie passt das zusammen? Zwei Patienten, die im Maßregelvollzug leben und als so gefährlich galten, dass sie sicher eingesperrt werden mussten und diese Freizügigkeit?
Es sei das Ergebnis von Kontrolle und Vertrauen, kann man die Antwort von Dr. Ulla Lübcke-Werner zusammenfassen. Die 63-Jährige leitet diesen Teil der Klinik, den forensischen Bereich: "Die meiste Sicherheit entsteht über Beziehung, nicht über Stacheldraht." Ärzte und Pflegepersonal arbeiten mit den Männern, die hier untergebracht sind, therapeutische Gespräche einzeln und in Gruppen gehören dazu. Die Psychiaterin sagt: "Die Arbeit in der allgemeinen Psychiatrie ist gefährlicher als hier. Wir kennen über Berichte die Vorgeschichte der Männer."
Ulla Lübcke-Werner tritt die Nachfolge von Dr. Jürgen Schmitz an, der in den Ruhestand geht, aber weiter als Gutachter arbeitet und der Klinik verbunden bleibt. Zeit für eine Bilanz und einen Ausblick. Schmitz hat die Abteilung mit 108 Betten, aber 127 Patienten, seit 2012 geleitet. Mit seiner Kollegin arbeitet er lange zusammen, sie ist seit 1999 in der Klinik beschäftigt, seit 2010 im Maßregelvollzug.
Maßregelvollzug, was bedeutet das? Das Strafrecht geht von einer Steuerfähigkeit aus, man weiß, was man tut und ist dafür verantwortlich. Gleichwohl gibt es zwei Paragrafen, die von Schuldunfähigkeit beziehungsweise verminderten Schuldfähigkeit ausgehen. Jemand ist psychisch so krank, dass er nicht steuern kann, was er tut oder er eben einschränkt ist, dass er die Folgen nicht überblickt. Wer beispielsweise an Schizophrenie leidet, kann während einer Psychose eben nicht steuern, was er tut, etwa weil er Stimmen hört.
Nach dieser Logik ist ein Mensch zwar schuldunfähig, kann also nicht für seine Tat verurteilt werden, gleichwohl ist er möglicherweise gefährlich -- Wiederholungsgefahr. Das Gericht kann ihn dann in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen, eine Mischung aus Gefängnis und Klinik. Anders als bei einer Verurteilung gibt es kein Strafmaß, es ist also nicht klar, nach beispielsweise drei Jahren geht jemand wieder seiner Wege.
Der Ansatz ist Behandlung, Therapie und Medikamente, die schließlich eine Rückkehr in ein Leben ohne Mauern ermöglichen. Schlägt das Konzept an, stehen Lockerungen an. Begleiteter Ausgang auf dem Gelände, Ausgang mit einem Mitpatienten, gleiches Muster mit Besuchen in der Stadt, Alleingänge, Wohnen in einer Wohngruppe, Arbeiten außerhalb, Wohnen irgendwo in der Stadt.
Die Klinik selber gibt Prognosen ab, dazu kommen alle zwei Jahre externe Gutachten -- um die Gefahr gering zu halten, dass der Patient die Psychiater täuscht. Dem Vorgehen muss die Strafvollstreckungskammer zustimmen. Im Zweifel kann das bedeuten, dass Juristen zu anderen Einschätzungen kommen als die Mediziner und etwa einer Entlassung nicht zustimmen -- die Türen bleiben verschlossen.
Grundsätzlich gilt, dass der Staat Freiheitsrechte nur angemessen einschränken darf. Ist also jemand beispielsweise mit Medikamenten in der Lage, "draußen" zu leben, müsste er freigelassen werden. Eine Begleitung steht an, die Justiz erlässt Auflagen: eine weitere Betreuung oder die Maßgabe, bestimmte Tabletten zu nehmen; wer dagegen verstößt, kann wieder hinter Gittern landen.
Die Konsequenz ist auch: Die Gesellschaft muss sich entscheiden, wann sie jemanden wieder in Freiheit leben lässt und wann nicht -- wie groß darf das Risiko sein, mit dem wir leben? Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Patienten eher länger hinter Mauern bleiben als vor Jahren. Noch mal zur Erinnerung: Sie sind nicht schuldig gesprochen worden.
Schmitz und seine Kollegin Lübcke-Werner sagen, dass der Zaun um die Klinik in den kommenden Wochen verändert wird, er bleibt sicher, aber ohne den messerscharfen Draht. Sie erinnern auch daran, dass ihre Sporthalle Vereinen offensteht -- ohne, dass es zu größeren Problemen kommt. Dass Menschen das PKL-Gelände regelmäßig durchqueren, um aus ihren Wohngebieten zur Arbeit oder zur Schule zu kommen, ist Alltag.
Die beiden wünschen sich eine Prä-Forensik. Also Einrichtungen, die auf Prävention setzen. Werden Auffälligkeiten früher erkannt, können sie behandelt werden. Ein Blick auf Zahlen kann den Blick verändern. Auf der Seite der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehablitation ist zu lesen: Jedes Jahr sind 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die häufigsten Erkrankungen sind Angststörungen (15 %), affektive Störungen (10 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (6 %). Von den 28 % der Bevölkerung mit mindestens einer psychischen Erkrankung pro Jahr sind Schätzungen zufolge bis zu 2 % schwer psychisch krank und bei 0,7 % wurde eine Schwerbehinderung bei psychischer Erkrankung anerkannt."
Schmitz und seine Nachfolgerin Lübcke-Werner sind sich einig: "Eine psychische Erkrankung sucht sich niemand aus." Behandlung ist der beste Schutz. Allerdings muss auch klar sein, manche Menschen bleiben gefährlich, sie sind dauerhaft untergebracht. Aber diese Fälle behandelt man in Lüneburg nicht. Carlo Eggeling
Kommentare
am 10.09.2024 um 13:18:29 Uhr
Aber die Situation sollte nicht verschlimmert werden. Einige Psychopharmaka steigern die Neigung zu Mord (und Selbstmord).