Verkehrter Verkehr
von Carlo Eggeling am 20.09.2025Meine Woche
Verkehrter Verkehr
Die Welt steckt voller Überraschungen, das macht sie zu einem aufregenden Ort. Also, man kann sich ganz oft aufregen. Parkplatz. Die einen verteidigen jeden Stellplatz als Bollwerk des Innenstadthandels. Andere bekommen Schnappatmung, da Stellplatz Auto bedeutet. Auto!!! Feind jeden Radfahrers!!!! Lebensgefahr!!!!!
Aufregend, die Ilmenaustraße soll eine Fahrradstraße werden, als Teil eines Radrings um die Innenstadt. Herrlich für den Mobilitätsausschuss. Da kann man Kante zeigen. Die Überraschung liefert die Verwaltung: Die Strecke sei „die Fortsetzung der Hauptroute für den Radverkehr im Osten der Innenstadt“, eine „Hauptachse im Radnetz“, da sie zentrale Ziele wie Theater, Volkshochschule, Stintmarkt, Marktplatz und Rathaus verknüpfe.
Wow, hätten Sie das gewusst? Welch ein soziologischer Blick auf den Alltag des Lüneburgers. Höllische Staus schon heute Wer muss nicht andauernd zu VHS, Rathaus, Theater und Stint? Hauptachse des Radverkehrs. Illusion, dass Radler die vom Theater kommen, über Sand und Am Berge kurven, um zum Wasserviertel oder Marktplatz abzuknicken.
Ich besitze kein Auto und fahre meistens Rad, aber weil ich weiß, Experten des ADFC, VCD, Klima- und Radentscheids, mutmaßlich auch Greenpeace, Robin Wood und auf jeden Fall die Verkehrspolitiker der Grünen halten mich für inkompetent, habe ich vorsichtshalber in der Uni angerufen. Professor Dr. Peter Pez, Verkehrsgeograf beleuchtet das Thema Verkehr unter anderem in Lüneburg seit 1990 wissenschaftlich. Manchen gilt der überzeugte Sattel-Mann als "Rad-Papst".
Wieder zeigt sich die Welt aufregend und überraschend. Prof. Pez findet den gesamten Fahrradstraßenring überflüssig: "Seit der Umsetzung des Verkehrsentwicklungsplans 1993 verfügt Lüneburg über ein autoarmes Zentrum." In der Regel führen Menschen mit dem Rad in die Stadt für Einkauf, Arbeit, Arzt, Café, Kultur. Dass jemand von Reppenstedt nach Adendorf oder Bardowick wolle, sei die Ausnahme -- selbst ohne einen Ring aber bestens möglich.
Wenig überraschend, das ist zunächst ein bisschen schade für die Dramaturgie des Textes, kommt der Wissenschaftler zu dem Schluss, die Ilmenaustraße brauche keinen Umbau. Zum einen weil sie eben keine Hauptachse für Velos sei, zum anderen, weil man dort problemlos strampeln könne. Der Meinung war Pez übrigens bereits bei der Wallstraße. Das ist nun für einen Fahrrad-Fan aufregend. Weder Ilmenau- noch Wallstraße tauchen übrigens öfter mit Unfällen im Polizeibericht auf. Gleiches gilt für die Hindenburgstraße, die man auch umbauen möchte.
Der Radentscheid hingegen findet Autos überflüssig: "Da in unmittelbarer Nähe genügend Kapazitäten vorhanden sind, braucht es keine Parkplätze direkt an der Ilmenau." Laut Stadt befinden sich dort 72 Stellplätze. Die Initiative weiß, das Parkhaus Stadtmitte am Wasserturm verfüge über 350 Parkplätze, das Karstadt-Parkhaus über 200 Parkplätze. Beide Parkhäuser sind nur zu 40 bis 60 Prozent ausgelastet. Eine Parkplatznot ist also nicht gegeben." Wie das Anwohner finden ist damit völlig Latte.
Ganz klar, die CDU, ihre Nachwuchsorganisation und die Mittelstandsvereinigung halten dagegen, es brauche Stellplätze, da der Handel reichlich zu kämpfen habe. Ich glaube, dass Geschäftsleute nicht wegen zu wenig Parkplätzen aufgeben, die haben mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Jetzt bitte nicht wieder die hohen Mieten, die regeln sich nach unten. Bitte auch nicht: Die Stadt ist voll. Tagestouristen trinken einen Kaffee, kaufen überschaubar ein.
Ausgekaut wie ein Kaugummi von vorgestern. Aktivisten für vier und zwei Räder stehen sich so kompromissbereit gegenüber, als hätten sie den chinesischen Revolutionär und Staatsgründer Mao Tse tung gelesen: „Politik ist Krieg ohne Blut, Krieg ist Politik mit Blut.“ Wie ich darauf komme? Verkehrsdezernent Markus Moßmann machte im Ausschuss auf die Zubringerfunktion der Ilmenaustraße aufmerksam, als Zufahrt für das Karstadt-Parkhaus. Die LZ zitiert ihn so: „Wenn man das ändern will, müsste man den Fahrzeugverkehr durch die aktuelle Fußgängerzone führen. Einen Tod müssen wir da also sterben.“ Leben und Tod.
All diese Umbauten kosten Hunderttausende, wenn nicht Millionen. Fördermittel? Stammt nicht aus Steuern? Wie wär's mit Initiativen, die überschaubar kosten und helfen? Die nicht mit religiösem Eifer geführt werden und nicht gleich jemandem vor den Kopf stoßen. Das Kopfsteinpflaster an der Ilmenau wurde begradigt. Klasse. Kein Protest. Wie wäre es mit Alternativrouten, um in die Stadt zu kommen? Statt neben Hauptstraßen in die Pedale zu treten, die von Pez empfohlenen Schönrouten ausschildern? Wer nach Adendorf will und ortsunkundig ist, weiß nicht, dass es idyllisch durchs Lüner Holz geht.
Wie wäre es, statt noch acht Jahre zu diskutieren, die Fahrradparkhäuser am Bahnhof sicherer zu machen und sich nicht rauszureden mit: "Wir kommen in kein Förderprogramm." Wem zweimal das E-Bike geklaut wurde oder teure Teile, überlegt, ob das Rad für Verkehrswende steht. Wie wäre es, den Vorschlag einer ehemaligen und unterlegenen OB-Kandidatin umzusetzen, aus der unteren Etage des Karstadt-Parkhauses eine Radstation zu machen, mit abschließbaren Boxen und einem Serviceangebot? Wie wäre es, in Zusammenarbeit mit Kreis und Gemeinden, fehlende Lücken im Radwegenetz zu schließen und ausgemergelte Wege in Schuss zu halten?
Das ständige Geschrei um jeden Parkplatz ist langweilig, den findet man anderswo nicht überall. Die ständige Predigt, der Radler sei in Gefahr und wir brauchen Kopenhagen, scheint sexy wie Fahrradklammern an der Jack-Wolfskin-Hose.
Dass die Speichen-Koalition gerade wieder hochschaltet, hat nie im Leben etwas mit Wahlkampf zu tun. Es sind rein zufällig Organisationen, in denen die stets gleichen paar Gesichter auffallen. Komisch, dass die vor allem gegen CDU und SPD schießen, und vollstes Verständnis für die von den gemeinen Ignoranten gebeutelte Verwaltung und die grüne Oberbürgermeisterin zeigen -- unter dem alten OB war das irgendwie anders. Zufall. Sicher.
Zur Erinnerung. Der Radentscheid hat 2022 mit 8000 Unterschriften den Stadtrat dazu gebracht, mehrheitlich dem Bündnis und seinen Zielen zustimmen. Man stehe für die Mehrheit. Was eine kühne Behauptung darstellte, denn angesichts rund zehnmal so vieler Einwohner in der Stadt und reichlich 50 000 Wahlberechtigten.
Überdies ist es nicht so, dass Ziele automatisch umgesetzt werden müssen. Denn in der Vorlage zum Beitritt im Jahr 2022 hatte man die Kasse im Blick: "Es sind die begrenzten Möglichkeiten der Hansestadt Lüneburg insbesondere bei dem Einsatz personeller und finanzieller Ressourcen zu berücksichtigen, deren Einsatz nur im Rahmen des Möglichen erfolgen kann. Hiernach gilt der Möglichkeitsvorbehalt auch, wenn das Begehren innerhalb einer bestimmten Frist erfüllt werden soll." Danach hat die Ratsmehrheit gehandelt.
Auf der anderen Seite, der Parkplatz-Fraktion, schaut es ideologisch nicht anders aus. Die Innenstadt und der Verkehr werden im Kommunalwahlkampf die Themen. Vor allem wenn die Kreis-Gesellschaft MOIN mit dem Jahreswechsel den ÖPNV übernimmt und es mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht rund läuft.
Interessanterweise ergreifen die ganzen Initiativen und Parkplatzkämpfer kaum Initiativen für Menschen wie meinen sehbehinderten Stammtischfreund Hubert, der mit seinen Mitte 80 nur noch Bus fahren kann und vom Kreideberg mäßig in die Stadt und wieder nach Hause kommt. Er sagt, im kommenden Jahr sollen Verbindungen über den Bahnhof und nicht mehr am Markt entlang führen. Muss Hubert zu Hause bleiben oder kommt eine Rikscha-Service? Da könnte man überrascht sein und sich aufregen.
Anderes Thema. Auch das Rathaus kämpft inzwischen für den Erhalt des Jungheinrich-Werks, bekanntlich sollen Teile geschlossen werden und rund 300 Kollegen ihren Job verlieren. Die Oberbürgermeisterin kam zu einer Aktion von Betriebsrat und Gewerkschaft ans Werkstor, um sich solidarisch zu zeigen. Freundlich. Selbstverständlich allerdings auch.
Sie erzählt überraschende Geschichten. Als sie vor Wochen von den Plänen hörte, habe sie ihren Urlaub unterbrochen, Ministerpräsident Olaf Lies angerufen und ihn zu einer Videoschalte mit Unternehmens- und Arbeitnehmervertretern geholt. Das überrascht. Denn Claudia Kalisch, ansonsten gern auf Fotos präsent, ist so gar nicht auf dem Foto dieser Runde zu sehen. Dafür als Landtags- beziehungsweise Bundestagsabgeordnete Philipp Meyn und Jakob Blankenburg. Was mehr Sinn macht, denn die besitzen das gleiche Parteibuch wie Sozialdemokrat Lies, den sie bestens kennen.
Soll man sich aufregen, wenn man weiß, so vieles ist relativ? Nimmer. Ralph Waldo Emerson, amerikanische Essayist des 19. Jahrhunderts, wusste: „Die Jahre lehren viele Dinge, die man von Tagen nicht lernen kann.“ In diesem Sinne, eine Runde aufs Rad mit Wilhelm Busch: "Eins, zwei, drei im Sauseschritt, es eilt die Zeit, wir eilen mit." Carlo Eggeling
Kommentare
Zu diesem Artikel wurden bisher keine Kommentare abgegeben.