Warum das Leben als Schausteller besonders ist
von Carlo Eggeling am 22.10.2023Lüneburger Gesichter (53) — In lockerer Reihe stelle ich unbekannte Bekannte vor
+Dieckmanns sind gern unterwegs -- ein Besuch bei Schaustellern
Es muss eine gewisse Unruhe gewesen sein, der Wunsch, unterwegs zu sein, ein bisschen Vagabundentum. Ein Jahrhundert ist es her, dass sich sein Urgroßvater Heinrich Hans in Winsen tausend Goldmark von seinem Vater lieh, um sich ein Pferd und ein kleines Karussell zu kaufen, erinnert sich Michael Dieckmann: "Damit ist er über die Dörfer gezogen. Er hatte Lust dazu, und seine Idee schlug ein. Nach einem Jahr konnte er das Geld zurückzahlen." Die Vision besaß, wenn man will, eine genetische Wirkung: Seine Nachfahren wurden Schausteller. Wie der Ahn können sie sich gar nichts anderes vorstellen.
Michael Dieckmann und seine Söhne Michael Henry und Nico verdienen ebenfalls auf Volksfesten ihr Geld. Michael Dieckmanns Bruder Hansi arbeitet auch in der Branche. Die Familie lebt mit ihren Betrieben zwischen Handorf und Wittorf auf einem 33 000 Quadratmeter großen Areal an der alten B 4. Hallen mit Werkstätten, Schuppem, Wohnwagen, Fahrgeschäfte, Buden. Von Winsen sind sie vor langen Jahren hier her gezogen. "Eigentlich sollte hier ein Autohaus hin, das hat nicht geklappt", erzählt Dieckmann senior. Die Familie kam zum Zuge, legte Strom- und Wasserleitungen: "Das ist ideal, weil wir oft nachts reinkommen oder laut in der Werkstatt arbeiten. Das stört hier keinen."
Was mit dem Urgroßvater klein begann wuchs: neue Geschäfte, größere Karussells wie die Raupe, deren Gondeln auf ihrer Kreistour von einem Schirm überspannt wurden -- gut zum Knutschen oder zumindest beim so zu tun, als ob. Der Autoscooter ist ein Klassiker des Jahrmarkts. Imbiss, Zuckerwaren, Bäckerei, Burgunderbraten, Dosenwerfen. Ausprobieren, Stände selber bauen, sich Neues überlegen. Weiter so. Na ja, doch immer etwas anders, weil das Publikum es anders will.
Michael Dieckmann, 58 Jahre alt, weiß, was ambulantes Gewerbe meint. Er reiste als Kind mit, von Platz zu Platz, von Schule zu Schule. Jedes Mal erzählen, wie sich das Leben auf Rollen dreht. "Wir waren Exoten", er lacht: "Bei den Mädels kam das gut an." Das Exotische war im späten Herbst vorbei. Winterpause und lernen: "In der Schule in Bardowick. Da mussten wir dann alles nachholen. Meine Mutter war da sehr hinterher."
Die Söhne Michael Henry (33) und Nico (29) erlebten es anders. "Ich bin fest zur Schule gegangen", sagt Nico. Aber wenn es ging, fuhr er zu den Eltern auf die Märkte. Nach der Schule folgte ein Intensivkurs für Schausteller-Nachwuchs: Rechnungswesen, Technik, am Ende ein Zertifikat. Dazu lernen bei Papa: schweißen, schrauben, streichen. Für ihn, das Beste, was es gibt.
Es habe sich etwas gewandelt, sagt der Vater. "In der Kindheit und bei meinem Vater, hieß es: Nehmt die Wäsche von der Leine", wenn wir kamen. Wir wurden so erzogen, korrekt zu sein, es besser zu machen. Heute ist es anderes. Wenn wir in die Orte kommen, kennt man uns. Eigentlich seit Generationen. In Börnsen hat uns der Bürgermeister erzählt, er habe es zu einem Heimatfest raussuchen lassen: Die Dieckmanns waren schon vor 75 Jahren bei Festen dabei." Aus Fremden wurden Freunde.
Es ist ein hartes Geschäft, Wind und Wetter, Personal ist schwieriger zu kriegen, immer mehr Bürokratie, anpacken, lange Tage. Die Woche hat manchmal mehr als 70, 80 Stunden. Sie müssen rechnen, eine Tour in den Harz lohne nicht mehr, wenn man Kosten für Sprit und Verschleiß dagegen stelle. Rund 100 Kilometer Umkreis, das ist ihr Revier. Corona tat richtig weh, vergangenes Jahr wiederum lief bestens: "Die Leute waren durstig, die haben viel nachgeholt. In diesem Jahr hat es sich wieder auf altes Niveau eingependelt."
Nico Dieckmann kennt es nicht anders, will nichts anderes. Das Leben auf den Plätzen mit den Kollegen, gegenseitige Hilfe und Gemeinschaft, das Reisen, das schon den Urgroßvater lockte. Es muss seinen Reiz haben. Seine Mutter Silke heiratete in eine Schaustellerfamilie ein, ohne die 55-Jährige ginge es nicht, sie ist für den "süßen Bereich" und die Buchhaltung zuständig. Auch Nicos Freundin kommt aus keiner Schaustellerfamilie: "Ich habe ihr gesagt, was auf sie zukommt." Er lächelt, stolz und glücklich. Es habe sie nicht abgeschreckt. Auch sie packt mit an.
Eigentlich hätten sie ihr unstetes Jahrhundert gern dokumentiert, doch vor ein paar Jahren brannte ein Schuppen samt Dokumenten ab. So ist nicht viel geblieben. Ein paar Fotos, der Hinweis auf 1923. Dazu die Erinnerungen und ein Leben, das noch immer ein wenig so ist wie das des Urgroßvaters. In Bewegung. Carlo Eggeling
Die Fotos zeigen historische Aufnahmen und die Familie Dieckmann Michael, Silke, Michael Henry und Nico.
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am 27.10.2023 um 15:18:52 Uhr