Lüneburg, am Mittwoch den 30.04.2025

Wer Tätern hilft, schützt Opfer — wie geht man mit Pädophilen um

von Carlo Eggeling am 27.07.2023


Dreißig Jahre lang hat der Erzieher in einem Kinderdorf im Landkreis Jungen missbraucht. Sechs Opfer nannte die Anklage, ob es mehr waren, bleibt offen. Vermutlich haben sich nicht alle Opfer gemeldet, möglicherweise hat der Mann nicht alle Taten gestanden. Am Ende von monatelangen Ermittlungen und einem kurzen Prozess verurteilte das Landgericht den 63-Jährigen zu einer Haftstrafe von zehn Jahren.

So schockiert viele reagieren -- es ist Alltag. Vergangenes Jahr wurden in Deutschland mehr als 15 500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Die Zahlen spiegeln nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu einer Million Kindern und Jugendlichen in Deutschland von Erwachsenen sexuelle Gewalt angetan wurde beziehungsweise wird. Das bedeutet: In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei Betroffene. Und: Laut der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs der Bundesregierung, Kerstin Claus, kommen dreiviertel der Täter aus der Familie oder dem engsten sozialen Umfeld der Kinder.

Im Maßregelvollzug der psychiatrischen Klinik (PKL) behandeln der Leiter und Psychiater, Jürgen Schmitz, und der Psychologe Frank Löhr neben anderen Täter, die sich an jungen Menschen vergangen haben. Wer hier einsitzt, hat eine Persönlichkeitsstörung oder ein Suchtproblem. Von den Rufen "Todesstrafe für Kinderschänder" halten die beiden wenig, sie plädieren für mehr Hilfsangebote, das sei eher ein Opferschutz. Denn wer pädophil ist, merke das und wisse, dass ein Übergriff nicht richtig ist. Das Netzwerk "kein Täter werden", das unter anderem in Hamburg vertreten ist, bietet Sprechstunden an. Das Ziel: Betroffenen beizustehen, bevor sie zum Täter oder zur Täterin werden. Wobei Täter weit überwiegend Männer sind.

In der PKL gab es Gruppen für Betroffene, doch die wurden wieder eingestellt. "In der Ambulanz bekommen wir das nicht mehr hin", sagt Löhr. Es fehle an finanzieller Ausstattung und an Personal: "Kollegen hatten das nebenberuflich gemacht."

Pädophilie gilt als eine seelische Störung und damit als krankhaft. Sie meint die "ausschließliche Vorliebe für Kinder", zumeist bis zu einem Alter von elf Jahren. Täter würden sich ihr Handeln als Rechtfertigung für sich selbst entschuldigen, indem sie behaupten, Kinder hätten eine Sexualität und würden "Schmusen" mögen. Chefarzt Schmitz weist das zurück, Mädchen und Jungen seien selbstverständlich Opfer: "Kindliche und erwachsene Sexualität haben nichts miteinander gemeinsam. Kinder können diesbezüglich keine Entscheidung treffen, Täter überschreiten eine Grenze."

Woher Pädophilie kommt, sei wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. In einem bestimmten Alter werde der Mensch von einer sexuellen Orientierung geprägt, im Erwachsenenalter wandle sie sich nicht mehr und könne auch nicht "umtrainiert" werden. Veranlagung könne bei dieser Ausrichtung eine Rolle spielen, auch Lebensumstände: "Aber es gibt nicht den Auslöser."

Löhr schildert das Schicksal eines Betroffenen: Der Mann, Mitte 40, habe gewusst: "Ich bin pädophil, ich möchte aber niemandem etwas antun." Es sah sich Kindersendungen an, das reichte nicht, im Internet fand er Kinderpornographie. Schließlich fand er den Weg in die Klinik. "Es war eine Befreiung, darüber reden zu können." In einer Gruppe merkte er, er ist nicht alleine, andern geht es ähnlich. Doch was dann? "Es ist schmerzhaft, auf Sexualität zu verzichten." Das sei mit einer Sucht vergleichbar, auch da müsse es Alternativen geben, müssten oftmals Medikamente eingesetzt werden, um den Druck zu mildern.

Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen -- die Mediziner entschuldigen nichts: "Was da passiert, ist unvorstellbar, kaum zu verstehen", sagt Löhr. Wer sich als Entschuldigung bastelt, Kinderpornographie sei eine Art Verhinderung, liege falsch: "Da baut sich jemand eine eigene Welt, wie sie passen soll. Aber es sind Bilder sexueller Gewalt, manchmal an Babys. Den Kindern wird etwas angetan, diese Bilder werden jahrelang durchs Netz gereicht."

"Kipo", wie Polizisten diesen Komplex abkürzen, findet sich reichlich in der Kriminalstatistik. Laut einer Internetseite der Bundesregierung wurde 2022 in 42 075 Fällen von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Missbrauchsdarstellungen ermittelt, hinzu kommen 6746 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Jugendpornographie.

Schmitz und Löhr meinen, Empörung sei verständlich, helfe aber kaum: Sexualität sei ein Gefühl, doch man müsse rational auf den Trieb schauen: Was ist das Bedürfnis? Wo wurzeln die Ursachen? Liegt eine schwere Persönlichkeitsstörung vor? Oder eine Intelligenzminderung? Ist eine Therapie möglich, welche?

Schmitz sagt: "Die Rechtssprechung hat sich in den vergangenen Jahren verändert, ist deutlich strenger geworden." Richter gingen seltener von der sogenannten "eingeschränkten Steuerungsfähigkeit" aus. Sie nehmen also an: Ein Täter überblickt, was er tut. Wenn das der Fall ist, sei das Ergebnis eine Haftstrafe. Allerdings stehe dort ebenfalls eine Therapie an, das Vorgehen sei dem wie in der Forensik ähnlich.

Der erste Schritt sei, zu dem zu stehen, was man getan hat. Das gehe am besten in einer Gruppe. Zum einen merken die Beteiligten, sie sind nicht alleine, zum anderen wissen die anderen aus eigenem Handeln, wann jemand sich seine Taten schön redet. "Das kommt anders, tiefer an, wenn ein Mitpatient sagt, dass jemand lügt oder etwas weglässt." Täter sollen Verantwortung für ihre Taten übernehmen.

Dazu gehören klassische Formen der Suchttherapie: Was ist passiert, bevor es zum "ersten Mal" kam? Eine Vorgeschichte offenbart beispielsweise ein mangelhaftes Selbstwertgefühl, Depressionen, ein gezieltes Vorgehen. Auf dem Programm steht, wie man sich gegen "Rückfälle" schützen kann, wie man sein Leben verändern kann, um den Druck zu mindern. Im Fall der Fälle Medikamente.

Wer in Freiheit kommt, geht in der Regel mit Bewährungsauflagen. Die können bis zu fünf Jahren und in Sonderfällen noch länger dauern. Er muss sich in der Ambulanz zu Gesprächen melden, Therapeuten erscheinen aber auch -- unangekündigt -- zum Hausbesuch, um zu sehen, wie und unter welchen Umständen jemand lebt. Urinkontrollen zeigen, ob Betroffene ihre Medikamente einnehmen. Wer gegen Auflagen verstößt, muss mit Sanktionen rechnen. Die Klinik verzahnen sich mit Bewährungshilfe und Polizei.

Wer mit Tätern arbeitet, muss an sich arbeiten. Frauen und Männer, die sich grauenvolle Geschichten anhören, müssen furchtbare Bilder verarbeiten. Supervision, der Austausch mit Kollegen gehören dazu, um es auszuhalten und die nötige Distanz zu schaffen. Leicht sei das nicht, sagt Löhr: "Ich bin selber Vater."

Gleichwohl wissen die Therapeuten, dass ihr Ansatz hilft. In Fachbüchern sei nachzulesen, dass eine Therapie das Risiko eines Übergriffs um zwanzig Prozent mindere. Immerhin. Doch es gebe Grenzen, räumt Schmitz ein: "Wenn man jemanden jahrelang in Behandlung hat, lernt man ihn kennen und kann ihn einschätzen. Aber eine Prognose menschlichen Verhaltens ist nie perfekt." Carlo Eggeling

Wer Hilfe sucht, wendet sich ans Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf:

E-Mail: praevention@uke.de
Telefon: 0152 22 81 66 28

Sprechzeiten:
Montag: 15:00 – 16:30 Uhr
Donnerstag: 16:30 – 17:30 Uhr

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare


Zu diesem Artikel wurden bisher keine Kommentare abgegeben.



Kommentar posten Kommentar posten

Ihr Name*:

Ihre E-Mailadresse*:
Bleibt geheim und wird nicht angezeigt

Ihr Kommentar:



Lüneburg Aktuell auf Facebook